Brasilien
war. Isabel wußte von den Landkarten, die ihr die Nonnen in der Schule gezeigt hatten, daß Brasilien weit im Westen ein Ende hatte. Es verwandelte sich in Bolivien oder in Peru. Es gab dort schneebedeckte Berge, und die Indios trugen Decken um die Schultern und Bowlerhüte auf den Köpfen, und es gab maoistische Guerilleros, die sie vielleicht bei sich aufnahmen und zu Soldaten in ihrem Krieg gegen die Männer mit den silbergrauen Anzügen machten.
Vorerst aber stellte sie ihr Marsch durch das gleichförmige Buschland vor die tägliche Not, ihre Nahrung zu finden, ihr Leben zu verteidigen, ihr Blut von den Dämonen der Krankheit frei zu halten. Azor, der bei ihrem Aufbruch prall wie eine Made gewesen war, hatte jetzt spindeldürre Glieder, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er hatte gelernt, auf seinen eigenen Beinchen mitzulaufen, stundenlang und klaglos, aber sein Gesicht, so schien es Isabel, verwandelte sich dabei in das einer greisenhaften Mumie. Cordélia, die immer noch gestillt wurde, war es besser ergangen, aber nun begann Isabels Milch zu versiegen. Isabel hatte ihre weiblichen Rundungen eingebüßt und war so mager geworden wie Kupehaki, auch wenn ihr die Haut nicht in faltigen Lappen von den Armen hing wie an der pochenden Kehle eines Leguans. Ihre Rippen zeichneten sich so deutlich und zerbrechlich ab wie die Rippen eines Palm blatts, und an ihren Waden spannten sich Muskeln, die so hart waren wie bei Tristão. Die alltägliche Sonne hatte ihre Haut leuchtend braun gefärbt und ihre Haare in verblüffendem Kontrast gebleicht, während Tristão die Farbe von Sand angenommen hatte, seine schwarzen Schultern vor ihr so verwaschen wie der einst grellrote Rucksack, der ihr jetzt als schwer erkennbares, rechteckiges Banner in flauen Rosatönen den Weg durch die Gras-, Busch- und Waldstrecken wies, deren unaufhörlicher Wechsel sich zur großen Gleichförmigkeit des Mato Grosso ergänzte. Eine Trübung war unter Tristãos Haut gekrochen – bleiche Flecken, die eine geisterhafte Karte auf seine Wangen und seine Oberarme zeichneten –, und im dichten, elastischen Kissen seines Haarschopfs hatten sich ein paar kleine graue Wirbel eingenistet. Er rasierte sich nicht mehr, um die Schneide seiner Rasierklinge zu schonen, und der Bartwuchs hatte sich mit dünnen, weichen, schütteren Haaren eingestellt, die ganz anders waren als sein Haupthaar und bei einer Länge von zwei Fingerbreiten stockten.
Isabels Liebe zu ihm nahm eine neue Gestalt an, die langgestreckte Gestalt einer großen Schleife, die sich in den Himmel hinaufschwang, über und unter sich mühelose Weiten, und sich dann zur Erde zurückkrümmte und sie mit ihrer Macht verblüffte, einer schlummernden Macht, geweckt von einem plötzlichen, neuen Blick auf sein Gesicht – von oben, zum Beispiel, so daß die hohe, kantige, ernste Stirn vor seine Augen trat, die wie Fenster in die Schwärze waren, und der verkürzte Bogen seines Unterkiefers sich in die Höhlung seiner muskulösen Schulter schmiegte – oder vom Bild seines ausgezehrten Körpers, wie er sich bückte und einknickte und seine hagere Kontur über ein zu entfachendes Feuer gebeugt war, jeder Wirbel seines Rückgrats sichtbar wie die Gischthöcker einer Stromschnelle. Manchmal, wenn er beim Feuer hockte, auf seine langen, bleichen Fersen hingekauert, um Azors erschöpften und geduldigen kleinen Körper nach Läusen, Zecken, Blutegeln und Würmern abzusuchen, oder wenn er ihr tief in der Nacht die schluchzende Cordélia an die Brust legte – denn auch ohne Milch vermochten ihre Brustwarzen das Kind zu trösten –, hätte Isabel heulen können vor verrückter Freude, vor Freude darüber, daß er sie erwählt hatte, daß er damals in der blendenden Helligkeit des Strandes zu ihr gekommen war und sich ihren Augen, ihrem weichen, jungen Wesen eingeprägt und ihrem Leben eine Form gegeben hatte. Er hatte sie gewählt, und er akzeptierte nun sogar diese Kinder als die seinen und das Schicksal, von ihrem Vater verfolgt zu werden. Wenn sie ihn unbemerkt beobachtete, wie er ein paar Schritte ging, hatte sie das Gefühl, daß er mit jedem dieser Schritte auf ihre bloßen Eingeweide trat, so ängstlich, schmerzlich, glitschig zuckte es in ihrem Inneren, das sich ekstatisch dehnte. Und wenn sie, sobald die anderen zur Ruhe gekommen waren – Azor und Cordélia schliefen, mit der alten Kupehaki verschlungen, unter einem von Stöcken aufgespannten Netz –, über den sandigen Boden ihres
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