Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
der tragischen Erstbesteigung, die vier Menschen das Leben kostete.
So war Asbjörn. Kaum hatte er den Auftrag erhalten, einen Film von den Alpen zu drehen, als er sich auch schon auf die Literatur über die Alpen stürzte. Was er von Triumphen und Tragödien unter den Bergsteigern, was er von der Flora und Fauna nicht wußte, war auch nicht des Wissens wert.
Dann standen wir hoch oben auf dem Gornergrat, unter Hunderten urlaubsfroher Touristen und betrachteten dieses Wunder der Natur - das Matterhorn. Das Matterhorn, das sich jäh aus einem Bergmassiv erhebt und in majestätischer Einsamkeit kühn in den Himmel ragt. Beide schwiegen wir und faßten uns unwillkürlich an der Hand. Es war überwältigend schön.
Schließlich begann ich zu reden, und ich sprach ganz leise, obwohl bestimmt niemand in der Nähe war, der Norwegisch verstand. Aber dieser Augenblick war so feierlich, daß ich nicht anders konnte: ich mußte leise sprechen.
„Asbjörn“, sagte ich. Er antwortete mir mit einem Händedruck. „Weißt du, Asbjörn, ich glaube, das ist mit das Schönste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Und ich werde meinem Schicksal ewig dankbar dafür sein, daß ich das mit dir zusammen habe erleben dürfen.“
„Genauso empfinde auch ich es“, antwortete Asbjörn, und auch er sprach leise.
„Weißt du, ich glaube, daß zwei Menschen, die etwas so überwältigend Schönes erlebt haben, sich auf ganz andere Weise miteinander verbunden fühlen müssen - miteinander haben sie etwas wie eine Offenbarung erlebt. bestimmt drücke ich mich sehr dumm und unklar aus.“
„Nein, Bernadette. Ich verstehe dich sehr gut.“
„W r enn wir jemals böse aufeinander werden sollten, Asbjörn, wenn es jemals dahin käme, daß wir einander verletzen oder ärgern -dann sagen wir ganz einfach ,Matterhorn!’ und denken an diesen Augenblick zurück, und dann wissen wir, wie sehr wir einander lieben und wie vieles wir miteinander gemeinsam haben. Wir werden sofort wissen, daß die kleinen Ärgernisse des Alltags im Grunde nichts zu bedeuten haben und zwei Menschen, die einander so
nahestehen, stets über alles sprechen und alles verstehen können.“ Ich blickte ihm nun ins Gesicht, in dieses liebe, geliebte Gesicht. Er lächelte. Niemals zuvor war sein Lächeln so liebevoll und zärtlich gewesen.
„Abgemacht, Bernadette! Tu ich dir einmal weh, sagst du nur ,Matterhorn!’.“
„Nein, du bist es, der es sagen muß. Derjenige, der den anderen verletzt hat, muß es sagen, denn es bedeutet doch in gewisser Weise: Verzeihung.“
„Hauptsache ist, daß einer von uns es ausspricht.“
„Einverstanden. Auf jeden Fall bedeutet es den Wunsch, Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen.“
„Gut. Aber jetzt muß ich an meine Aufgaben denken. Guck bitte mal auf den Belichtungsmesser.“
Ich war inzwischen zum „Beleuchter“ aufgerückt. Es hatte mich Mühe und sehr viel Überredungskunst gekostet, und erst nachdem ich unzählige Male zur Probe abgelesen hatte, wagte Asbjörn, mir diese Arbeit zu überlassen.
Die Aufnahmen kosteten Zeit, denn es sammelten sich einige Wolken zu einer dichteren Schicht, die zum Matterhorn hin zog, sich an die steile, weiße Felswand schmiegte und an ihr entlang sacht aufstieg. Asbjörn filmte und machte Einzelaufnahmen, wartete und knipste erneut, wechselte auf das Teleobjektiv über und zog sozusagen die gesamte Wolkenformation in die Kamera hinein. Geduldig wie immer. Alles, was ein Kameramann durch Geduld zu erreichen vermag, das holt Asbjörn heraus. Der Kastanienbaum, die Alpenrosen, stundenlanges Warten auf ein Hermelin, einen Fuchs oder ein Murmeltier. Bei ihm haperte es nur etwas mit den blitzschnellen Schnappschüssen. Er verstand es nicht, die Kamera ans Auge zu reißen und loszufilmen, wenn er unerwartet und plötzlich ein gutes Motiv vor sich hatte. Lief ihm ein Tier über den Pfad, ließ er es laufen, denn bevor er Abstand, Blende und dergleichen eingestellt hatte, war es schon über alle Berge.
„Versuch’s doch!“ rief ich ihm manchmal zu, aber Asbjörn schüttelte nur den Kopf.
So kam es, daß er wohl großartige Aufnahmen machte und bestimmt keinen Film vergeudete, aber er verpaßte auch viele hübsche Augenblicksmotive.
Es dauerte gut über eine Stunde, bis er zufrieden war.
„Bleib du ein wenig hier, Bernadette“, bat er mich. „Ich gehe nur auf die andere Seite und werfe einen Blick auf den Monte Rosa, vielleicht kann ich auch von dort ein paar Meter
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