Bratt, Berte - 01 - Das Herz auf dem rechten Fleck
noch sehr wenig für Freude und Wärme übrig.“
„Du hast eben deine Eltern zu früh verloren“, sagte ich.
„Ja, was das bedeutet, weiß nur, wer es durchgemacht hat. Du hast wenigstens deine Mutter.“
„Ja, und sogar eine sehr liebe Mutter.“
„Das glaube ich dir gern. Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen.“
Diese Freude sollte Asbjörn schneller zuteil werden, als wir geahnt hatten. Denn als wir an diesem Nachmittag mit Kamera, Rucksack, Schlafsack, Reisedecke und Hund zurückkehrten, wartete bereits Post auf uns. Ein Brief meiner Mutter an mich und einer für Asbjörn von seiner Filmgesellschaft in Frankfurt. Wir lasen um die Wette.
„Das mußt du hören!“ riefen wir am Ende wie aus einem Mund. Asbjörn wollte nun als erster hören.
„Mutti und Onkel Thomas sind in Kopenhagen, das heißt, jetzt im Augenblick befinden sie sich irgendwo in Deutschland - sie wollen weiter nach Italien und kommen hier vorbei. Mutti hat mich gebeten, ihr ein Zimmer bei Tony zu besorgen, denn sie nimmt von vornherein an, daß unser Haus besetzt ist.“
„Aber das ist es ganz und gar nicht! Ich bleibe auf dem Speicher, und meine künftigen Schwiegereltern bekommen die Wohnung Nummer fünf.“
„Asbjörn, ich freue mich so sehr! Ich freue mich so sehr darauf, daß ihr einander kennenlernt!“
„Ich auch. Und jetzt bin ich an der Reihe: Feldmann - mein Chef, also - ist zunächst einmal hell begeistert von dem, was er bisher vom Film gesehen hat. Und er bittet uns, wir sollten nach Zermatt fahren und einige Meter Film am Matterhorn drehen. Ohne das Matterhorn sei kein Film aus den Alpen vollkommen, meinte er.“
„Einen Augenblick: bittet er uns?"
„Ja, das heißt, mich; er weiß doch noch nicht, daß aus mir ein ,Wir’ geworden ist. Dann sollen wir zum St. Bernhard und Hunde filmen.“
„Wunderbar! Stell dir nur vor, einmal Tiere filmen zu können, denen man nicht stundenlang auflauern muß.“
„Richtig, aber hör zu, es kommt noch mehr!“
„Wenn er etwa von uns verlangt, wir sollen den Monte Rosa besteigen.“
„Nein, das bleibt uns erspart. Aber sobald wir die Hunde und das Matterhorn hinter uns haben, meint er, sollte ich eine Pause einlegen. Er möchte, daß ich auf ein paar Tage nach Frankfurt komme.“
„Du oder wir?“
„Natürlich wir! Kennst du Frankfurt?“
„Ja, vom Geographieunterricht in der Schule her.“
„So ist es höchste Zeit, daß du einmal wirklich hinkommst.“ „Asbjörn, jetzt dreht sich bald alles um mich her. Ich soll mit dir auf den Großen St. Bernhard und zum Matterhorn.“
„Das ist ein wenig übertrieben, nur zum Gornergrat, um von dort aus das Matterhorn zu sehen.“
„Schon gut, also mit dir zum Gornergrat - und mit dir nach Frankfurt!“
„Und mit mir in alle anderen Gegenden auf der Welt, wohin Feldmann mich schickt.“
„Asbjörn, kneif mich in den Arm! Ich kann mir kaum vorstellen, daß das alles wahr ist. Wie in aller Welt habe ich ein so großes Glück verdient? Warum ist das Schicksal zu mir so gut?“ Asbjörn lächelte.
„Vielleicht, weil du selber so gut bist, kleine Bernadette!“ Grand’mere weinte vor Rührung und Seligkeit. Sie nahm Asbjörn fest in ihre Arme und nannte ihn ihren Jungen; er sollte sie nun, ebenso wie ich, mit „tu“ anreden dürfen. Tante Cosima strahlte, und auch ihre Augen schimmerten ein wenig feucht. Onkel Ferdinand schlug Asbjörn auf die Schulter und hieß ihn innerhalb der Familie willkommen.
Wir mußten uns bald auf den Weg machen und fuhren mit unserem Auto davon. Wie üblich waren wir vor Sonnenaufgang auf den Beinen. In St. Nicolaus ließen wir unseren Wagen stehen, denn in Zermatt ist es ebenfalls nicht erlaubt, mit dem Wagen in den Ort hineinzufahren.
Die Touristensaison war jetzt auf ihrem Höhepunkt angelangt. Am Zug in St. Nicolaus wimmelte es von Menschen, die in einer langen Schlange auf den Zug nach dem Gornergrat warteten. Menschen mit Eispickeln und Bergstiefeln, alte Damen mit Sonnenhüten und Sonnenschirmen, ältere Herren mit Feldstechern und Spazierstöcken und junge Leute mit Kofferradio. Und dann selbstverständlich die unvermeidlichen jungen Damen, die keine Ahnung haben, was Berge sind, und mit leichten Sandalen und in ärmellosen Sommerkleidern losziehen.
Asbjörn filmte auch diese Schlange und machte einige Aufnahmen vom Leben in Zermatt. Als wir zur Gedenktafel für Edward Whymper, dem Erstbesteiger des Matterhorns, kamen, filmte er sie auch. Dann erzählte er mir von
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