Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss
atemlos. »Und dann?«
»Ja, dann lief ich rüber ins Atelier. Ich wollte einfach nicht die Zeit haben, noch einmal nachzudenken. Ich reichte Vati den Brief, und bevor er etwas sagen konnte, sagte ich: >Paps, da ist ein Brief aus der Schule, und ich habe ihn aufgemacht, weil ich Angst hatte, aber ich habe ihn doch nicht gelesen, und ich weiß, daß ich Haue kriege. Tu es bitte schnell, damit wir es hinter uns haben, und ich werde nie mehr einen Brief aufmachen<.«
»Und als du deine Haue weg hattest?« fragte Marion leise. »Ich bekam sie ja gar nicht! Vati saß da mit dem Brief in der Hand und guckte von mir zum Brief und vom Brief zu mir. Dann wurde er ganz blaß und sagte: >Britta, weißt du, was die Verletzung des Briefgeheimnisses bedeutet?< Dann fing ich an zu heulen, und Vati war ganz, ganz ruhig. Er setzte sich hin und erklärte mir, daß es ein Verbrechen sei. Einen Brief unerlaubt zu lesen sei eine Gemeinheit, einen aufzumachen sei ein Verbrechen, und er sei nie in seinem Leben so enttäuscht gewesen. Dann blieb er ganz still sitzen, er las den Brief nicht, er guckte mich nur an. Zuletzt nahm er meine Hand und sagte: >Gut, Britta, du hast doch im letzten Augenblick deine Ehre gerettet. Du hättest den Brief wieder zukleben können und nichts zu erzählen brauchen<. Ich sagte ihm dann, daß ich das nicht konnte. Ich mußte ihm alles erzählen, und ich schämte mich so schrecklich, so schrecklich. O, wie war ich unglücklich! Dann war Vati furchtbar lieb zu mir, er nahm mich in die Arme und sagte, ich sei doch im Grunde ein anständiges Mädchen, das er weiterhin sehr liebhabe.«
»Aber als er den Brief gelesen hatte?« fragte Marion. Sie lauschte meiner Erzählung mit großen Augen.
»Oh, mein Paps ist ein komischer Kauz!« lachte ich. »Vor lauter Entsetzen über die Verletzung des Briefgeheimnisses vergaß er, den Brief zu lesen. Das tat er, nachdem wir uns versöhnt hatten. Dann allerdings sagte er, ich hätte doch die Haue verdient, aber jetzt sei es zu spät. Dann hielt er mir eine Strafpredigt, die es in sich hatte, schrieb der Lehrerin, daß er ernstlich mit mir geredet, und daß ich versprochen hätte, nie mehr naseweis zu sein - darum ging es nämlich -, und ich hatte das Vergnügen, den Brief am folgenden Tag zu überreichen. Nebenbei gesagt gewann ich am gleichen Nachmittag das Preisschwimmen.«
Marion saß ganz still da. Sie weinte nicht mehr. Sie nahm den Brief und stand auf.
»Ist dein Vater im Atelier?«
»Ja.«
»Dann gebe ich ihm den Brief.«
»Marion, hör mal. Der Brief ist nicht aufgemacht. So weit kam es nicht. Nun bleibt dies hier unter uns. Kein Mensch soll es erfahren.«
»Meinst du?«
»Ja, bestimmt! Du sagst, dein Onkel darf nichts zerstören, aber du selbst darfst es auch nicht! Ich verstehe dich, weil ich dasselbe durchgemacht habe. Ich weiß, daß du deswegen kein schlechter Mensch bist. Komm, gib mir den Brief, ich gebe ihn Vati. Was auch darin steht, Marion, das wird gar keine Rolle spielen. Wir bilden uns unsere eigene Meinung über dich und lassen uns von keinen Onkels oder Tanten beeinflussen!«
Marion öffnete die Lippen. Sie wollte etwas sagen, aber es kam kein Laut. Dann griff sie nach meiner Hand.
»Britta«, flüsterte sie.
»Hier, Paps, ein Brief. Von Marions Onkel.«
»Ach so. Leg ihn da auf den Tisch. Ich habe jetzt keine Zeit.«
»Bist du denn nicht neugierig?«
»Doch, ob dieser gelbe Farbton der richtige ist. Guck mal her, Britta.
Was habe ich da bei Lillepus’ Haaren verkehrt gemacht?«
»Sie sind zu gelb. Es muß mehr Silberglanz rein. Wo ist denn dein Modell?«
»Auf dem Klöchen. Ihre Äußerungen, als sie mich verließ, deuteten auf so was.«
»Paps, ich bin furchtbar neugierig auf den Brief!«
»Dann mach ihn auf und lies ihn mir vor!«
Ich tat es.
»Sehr geehrter Herr Dieters!
Für Ihren Brief danke ich Ihnen sehr herzlich. Es ist meiner Frau und mir eine große Erleichterung zu wissen, daß es Marion bei Ihnen gutgeht, und wir werden Ihnen und Ihrer Familie nie vergessen, was Sie für das Mädchen tun.
Anbei einen Scheck über die vereinbarte Summe. Sollte Marions Aufenthalt bei Ihnen sich verlängern, bitte ich um Nachricht. Ich schicke dann wieder einen Scheck.
Den anderen Scheck über fünfzig Mark bitte ich Sie, Marion zu überreichen. Sie wird ja Taschengeld brauchen. Ich bitte um eine Empfehlung an Ihr Fräulein Tochter und verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung Ihr dankbarer Joachim Seising.«
»Na, ist ja
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