Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss
»Betreten streng verboten! Lebensgefahr!«
Turmhoch schlagen hier die Wellen im Frühling und Herbst, wenn die Stürme von Westen über unsere Insel fegen. Sie haben das mühsam gepflanzte Dünengras aufgerissen und ganze Stücke Land weggeschwemmt. Im letzten Winter fraßen sich die Wellen an einer bestimmten Stelle in das Kliff hinein und bildeten eine Art Höhle, eine kleine, halb überdachte Bucht. Wir wissen mit Sicherheit, daß das Meer sich da tiefer hineinfressen wird, deshalb ist diese ganze Gegend tabu. Hier dürfen keine Boote anlegen, wie still und sonnig das Wetter auch sein mag, und kein Mensch darf den schmalen Strandstreifen betreten.
Ich ging mit dem Waffeleisen nach Hause und überlegte. Was sollte ich tun? Marion warnen, natürlich! Aber sollte ich fragen, ob sie es gewesen sei? Oder sollte ich geradewegs sagen: »Ich hörte, du warst heut am Kliff?«
Ich wählte die erste Möglichkeit. Ich fragte, ob sie es gewesen sei. »Nein«, sagte Marion.
Ich schluckte. Dann versuchte ich, ganz natürlich zu sprechen. »Na, dann ist es ja gut. Denn weißt du, das ist direkt lebensgefährlich. Man kann ausrutschen und unter dem Sand begraben werden.«
»Dann wärt ihr mich ja los«, sagte Marion. »Reg dich nicht künstlich auf! Ich kann selbst auf mich aufpassen!«
Als sie noch zweimal gelogen hatte - es handelte sich um winzige Kleinigkeiten, um reine Lächerlichkeiten -, fing ich langsam an, einen Plan zu schmieden. Sie mußte lernen zuzugeben, wenn sie etwas ausgefressen hatte. Sie mußte es lernen, die möglichen Vorwürfe einzustecken! Doch wie sollte ich ihr das beibringen? Ich bezweifelte sehr, daß eine Moralpredigt etwas nützte. Also blieb mir nur eins: das Beispiel! Ich mußte selbst etwas ausfressen, und Marion mußte dabeisein. Im voraus würde ich Vati ins Bild setzen. Er müßte mir helfen. Er mußte fragen: »Seid ihr es gewesen?« Dann wollte ich gleich ja sagen, und Vati mußte uns eine Strafpredigt halten, daß wir die Engel singen hörten. Wenn er es für angebracht hielt, dürfte er mir sogar eine Ohrfeige geben, bloß nicht allzu hart. Aber was in aller Welt sollte ich bloß anstellen? Der Zufall kam mir zu Hilfe. Marion und ich waren allein zu Hause. Wir hängten im Garten Wäsche auf. Von der anderen Seite des Gartenzaunes rief jemand:
»He, Britta! Auf der Sandbank neben der Hallig liegen drei Seehunde!«
»Was du nicht sagst, Fietje! Kann man sie gut sehen?«
»Mit einem Fernglas, ja! Sie sind ganz jung! Du siehst sie vom Kliff, wenn du direkt neben dem Warnschild stehst!«
»Fein, Fietje! Wir laufen gleich. Komm, Marion, wir pfeffern den Wäschekorb in die Küche. Warte mal, ich hole das Fernrohr!« Ja, das Fernrohr, das war’s, was ich brauchte. Dumm, daß ich Vati nicht im voraus informieren konnte! Aber ich wollte es gleich tun, wenn er nach Hause kam, und dann mußte er ein Donnerwetter über unsere Köpfe loslassen.
Das würde ihm ohnehin nicht schwerfallen. Das Fernrohr ist nämlich sein teuerster und liebster Besitz, den niemand anrühren darf. Es ist ein langer Apparat zum Ausziehen. Ein Stativ gehört dazu; das schleppt Vati immer mit, damit ihm das gute Stück nicht aus der Hand fällt. Nur nicht an den Strand mitnehmen! Es könnten ja Sandkörner in den feinen Mechanismus geraten. Das Fernrohr ist das Heiligtum des Hauses, und ich denke lieber nicht an das eine Mal, als ich es trotz strengem Verbot heruntergeholt und mit nach draußen genommen hatte, natürlich um anderen Kindern gegenüber anzugeben. Über die für mich sehr schmerzlichen Folgen breite ich lieber den Schleier des Vergessens.
»Wenn Vati das ahnte, ginge er in die Luft«, sagte ich, als ich das teure Ding vom Wandbord holte. »Daß du bloß keinen Piep sagst, Marion. Sonst fliegen wir beide raus!«
»Habt ihr denn kein anderes Fernglas?« fragte Marion. »I wo, nur so ein lächerliches kleines Ding. Mit diesem hier kannst du dem Mann im Mond in seine Hohlzähne gucken. Nun schnell los, sei kein Spielverderber. Du möchtest doch die jungen Seehunde sehen?«
»Klar!« sagte Marion. Ich wickelte ein Tuch um das Heiligtum, und wir liefen los. Der Pfad von unserem Haus zum Kliff ist schmal, und wir gingen im Gänsemarsch. Wir konnten nicht miteinander sprechen, und ich hatte Gelegenheit, den weiteren Plan zu überlegen. Also schnell einen Blick auf die lieben Tiere, dann zurück, das Fernrohr aufs Bord, dann Vati erwischen und ihm blitzschnell den Plan erzählen. Und um eine sanfte Ohrfeige
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