Braut von Assisi
und nach unten spähten. Einige bekamen feuchte Augen, andere bekreuzigten sich hastig.
»Ich gehe voraus«, bot Leo an, während Stella für ihn übersetzte. »Passt auf, damit ihr nicht abrutscht!«
Die Männer folgten ihm, während die Frauen zurückblieben, um das Geschehen von oben zu beobachten. Leos Warnung war nicht übertrieben gewesen. Um ein Haar hätte es Pino erwischt, der plötzlich aufschrie und wie wild mit den Armen ruderte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen.
»Hier!« An den vier Steinen hatte Leo die von ihm markierte Stelle sofort wiedererkannt. »Ihr könnt beginnen.«
Er trat ein Stück zurück, um nicht im Weg zu sein, aber auch, weil er spürte, dass sie lieber unter sich sein wollten. Die Männer arbeiteten zügig und sorgfältig. Es dauerte nicht allzu lange, und sie hatten die sterblichen Überreste von Sebastiano freigelegt.
»Er sieht entsetzlich aus«, übersetzte Stella halblaut für Leo, was sie ringsum hörte. »Als ob ein Riese ihn zerquetscht hätte. Das hat unser armer padre nicht verdient!«
»Era un santo!« , rief einer der Männer und sank auf die Knie. »Un vero fratello di San Francesco!«
Die anderen stimmten ihm bei, doch dann ergab sich eine lautstarke Diskussion, die fast in Streit auszuarten drohte.
»Pino sagt, sie hätten einen Priester mitnehmen sollen«, übersetzte Stella. »Aber einige waren offenbar dagegen.
Und sie sind nach wie vor uneins darüber, wo Sebastiano bestattet werden soll. Hier oben, nahe der Quelle, oder doch lieber unten, auf dem Friedhof von Rieti, wo alle leichter sein Grab besuchen können.«
»Für einen Priester ist später immer noch Zeit«, sagte Leo. »Erst einmal müssen sie ihn auf ihre Bahre bekommen, bevor er ganz steif geworden ist. Ich bin sicher, Sebastiano würde am liebsten hier oben seine letzte Ruhestatt erhalten, nahe Fonte Colombo, in dem unberührten Wald und bei den Brüdern, die ihm bereits vorausgegangen sind.«
Stella wie auch Leo ernteten böse Blicke, als sie seine Worte übersetzt hatte.
»Sie mögen uns nicht«, flüsterte sie ihm zu. »Als würden sie uns die Schuld an seinem Tod geben.«
»Viele Menschen suchen nach Schuldigen, wenn sie ein Schicksalsschlag trifft, der sie zu überfordern droht«, antwortete Leo leise. »Das habe ich immer wieder beobachtet. Wenn es für die Gläubigen von Rieti so leichter ist, soll es mir recht sein.«
Endlich lag der Tote auf der Bahre, doch seine Arme waren schon steif und ließen sich nicht mehr bewegen, um die Hände auf der Brust zu falten. Wieder bekreuzigten sich einige; wieder entstand heftiges Palaver.
»Sie bringen ihn hinauf in die Magdalenenkapelle. Bestattet werden soll er wegen des heißen Wetters schon übermorgen. Sonst hätten sie ihn noch länger dort aufgebahrt, damit das ganze Tal Abschied von Padre Sebastiano nehmen kann.«
Der mühsame Aufstieg begann. Zum Glück war die Leiche mit Gurten auf der Bahre festgebunden, sonst wäre sie öfter als einmal heruntergerutscht. Schließlich hatten sie alle endlich wieder festen Boden unter den Füßen.
»Biete ihnen an, dass ich mich gerne für die Totenwache zur Verfügung stelle!«, sagte Leo zu Stella. »Ich bin schließlich sein Ordensbruder und mochte ihn von Herzen gern, wenngleich ich ihn leider nur kurz kennen durfte.«
Stella ging hinüber zu den Leuten und kam schnell wieder zurück.
»Abgelehnt! Keine Fremden erwünscht, haben Pino und sein Bruder gesagt, dieser Filippo. Und wie feindselig sie mich dabei angesehen haben! Ich darf den Frauen auch nicht dabei helfen, den Leichnam für das Begräbnis herzurichten. «
»Dann lass uns zurück nach Rieti reiten!«, sagte Leo. »Zum Begräbnis kommen wir wieder. Das kann uns keiner verbieten.«
In der Nacht hatte er von Chiara geträumt, dunkle, verstörende Sequenzen, die ihn schweißgebadet erwachen ließen. Wieder war er in ihrer kargen Zelle gewesen und hatte sie wie bei seinen Besuchen auf dem Lager vorgefunden. Doch bei seinem Anblick bäumte sie sich auf und zeigte ihm dabei ihre Handinnenflächen, in denen jeweils ein feuerrotes τ glühte, das sich tief ins Fleisch gefressen zu haben schien.
Als Leo näher kam, weil er seinen Augen nicht trauen wollte, schob sie die Decke zur Seite und riss im gleichen Augenblick ihre Kutte nach oben. Doch anstatt ausgemergelte Greisinnenschenkel zu sehen, wie er erwartet hatte, starrte er auf Knochen, so bleich und ausgewaschen, als wären sie bereits Hunderte von Jahren
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