Braut von Assisi
beiseite.
Als sie den Kopf hob, waren ihrer beider Lippen nur noch eine Handbreit voneinander entfernt. Noch nie zuvor war sie seinen goldbraunen Augen so nah gewesen, deren Blick so warm war, so offen, so voller Sehnsucht.
Hatte Leo die erste Bewegung gemacht, oder war sie nicht doch von ihr ausgegangen? Sie neigten sich einander zu und küssten sich.
Erneut begann Stella zu zittern, doch dieses Mal aus einem anderen Grund. Carlos Küsse waren von Anfang an fordernd und hart gewesen, hatten nach Besitz und Gier geschmeckt und sie zu etwas zwingen wollen, zu dem sie noch nicht bereit gewesen war. Dieser Kuss jedoch war voller Zärtlichkeit und Hingabe. Ein Gefühl, als würde sie nach weiter, entbehrungsreicher Reise endlich wieder nach Hause kommen. Als ob ihre Körper, die sich noch nie zuvor auf diese Weise berührt hatten, einander schon inniglich vertraut wären, seit langer, langer Zeit.
Leo löste sich als Erster und sprang auf.
»Wir müssen nach Bruder Sebastiano schauen!« Seine Stimme klang rau. »Wenngleich ich kaum glaube, dass er diesen Steinschlag überlebt hat.«
Unbeholfen erhob sich auch Stella. »Ich komme mit«, sagte sie. »Warte – ich bin nur leider noch nicht besonders schnell.«
»Überlegt Euch … überleg dir das lieber noch einmal!« Leo spähte nach unten. »Du könntest Dinge zu sehen bekommen, die du so schnell nicht wieder vergisst.«
»Ich komme mit!«, beharrte sie und stakste ihm hinterher.
Der Hang hatte sich in ein Geröllfeld verwandelt. Irgendwo musste der Eremit begraben sein – aber wo sollten
sie zu suchen beginnen? Leo bückte sich und begann, ein paar Steine beiseitezuräumen. Binnen Kurzem erhob er sich schwitzend wieder. Unwillkürlich schaute Stella auf sein linkes Bein, das zu schonen er offenbar ganz vergessen hatte.
Blutete es wieder? An Kutte oder Hose konnte sie nichts Verdächtiges erkennen, und sie war beruhigt.
»Es erscheint mir aussichtslos«, sagte er stöhnend. »Zu zweit können wir gegen diese riesige Steinlawine nichts ausrichten.«
Stella kniff die Augen zusammen. »Dort drüben sehe ich etwas Helles«, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Leo folgt ihr, so behände der unebene Untergrund und sein Bein es zuließen.
Als sie näher kamen, stockte beiden der Atem.
»Ein Fuß«, flüsterte Stella. »Ob er abgerissen …« Sie presste sich die Hand vor den Mund.
Leo kletterte um die Stelle herum. »Dann müsste hier der Kopf sein«, murmelte er. »Vorausgesetzt, er …«
Seine Hände begannen zu wühlen, langsam und vorsichtig zunächst, schließlich fast mit wütender Eile. Er kümmerte sich nicht darum, dass seine Haut aufriss und die Hände zu bluten begannen, so sehr war er bemüht, den Eremiten freizulegen.
»Hier!«, rief er plötzlich. »Ich bin auf etwas Weiches gestoßen. Das muss er sein!«
Doch es war nicht Sebastianos Kopf, den er schließlich entdeckte, sondern nur die Faust des Eremiten, die inmitten des Geröllfeldes wie verloren zutage kam. Noch immer hielt sie etwas umklammert, einen schmutzigen Fetzen Pergament, der die Steinlawine seltsamerweise unbeschadet überstanden hatte.
Leo wühlte weiter. Als endlich der blutverschmierte
Kopf zwischen dem grauen Geröll auftauchte, gab es keinerlei Zweifel mehr: Fra Sebastiano war tot, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht zu einer Grimasse aus Schmerz und Angst erstarrt.
Leo schloss dem Alten die Lider und sprach das Vaterunser. Stella fiel schluchzend mit ein.
»Wir müssen Hilfe aus Rieti holen«, sagte sie. »Deine Hände sind übel zerschnitten, und ich kann bald nicht mehr.«
»Das werden wir.« Leo beugte sich über den Toten und zog vorsichtig das Pergamentstück aus Sebastianos Faust.
»Was ist das?«, fragte Stella, während er zu lesen begann.
Leo schaute auf. »Nur ein paar Worte, die ich nicht verstehe. Sag du mir, was das bedeutet!«
»… Sarò per lei quella madre che sono per tutte le sorelle, ma non le mancherà nulla … «, las Stella halblaut.
»Auf Deutsch, Stella!«
»Ich werde ihr die Mutter sein, die ich allen Schwestern bin, und nichts wird ihrfehlen.« Sie sah ihn fragend an. »Verstehst du, was damit gemeint sein könnte?«
Leo schüttelte den Kopf. »Das ist alles?« Er klang enttäuscht.
»Mehr steht hier nicht.« Stella wischte sich mit dem Ärmel die Wangen trocken. »Doch das Ganze scheint ursprünglich länger gewesen zu sein. Sieh doch nur! Hier unten wirkt es wie abgerissen. Und oben auch.«
»Sebastiano hatte den Fetzen
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