Braut von Assisi
Secretarius war kühl. »Was mich betrifft, so gebe ich anderen Heiligen eindeutig den Vorzug. Viele vor Franziskus sind mutig für Jesus Christus gestorben. Sie alle verehre ich aus tiefstem Herzen.«
»Und doch hat gerade einer der Besten von uns sein Leben verloren.« Leos Stimme war nach wie vor ruhig. »Padre Sebastiano, der Einsiedler von Fonte Colombo. Ein Verlust, den das ganze Tal betrauert und der doch sicherlich auch den Bischof bekümmern müsste.«
»Wo denkst du hin!« Die blasse Stirn des Secretarius war von winzigen Schweißperlchen bedeckt. »›Höchste Zeit, dass die Einsiedeleien von Rieti endlich wieder den schwarzen Brüdern gehören‹ – das hat er erst gestern gesagt. Und damit meint er uns. Uns !« Sein langer, dünner Finger tippte auf seine eingefallene Brust.
Leo betrachtete ihn schweigend. Obwohl sein Gegenüber die dreißig wohl kaum überschritten hatte, kerbten bereits scharfe Falten seine Züge, und er besaß unübersehbar eine Neigung zum Buckel. Der Mund mit der zu kurzen Oberlippe drückte Missbilligung aus, die Augen verrieten Argwohn. Nein, dieser Mann war alles andere als dafür geeignet, ihm als Übersetzer zu dienen, so viel war schon jetzt gewiss! Und dennoch wollte er erfahren, mit wem er es hier zu tun hatte.
»Du hast mir noch nicht einmal deinen Namen verraten«, sagte Leo. »So, wie es unter Klosterbrüdern üblich
ist, auch wenn die Farben ihrer Kutten voneinander abweichen. «
»Guilhelmo. Früher auch Wilhelm genannt, ein Erbe meiner deutschen Mutter.«
»Nun, Bruder Wilhelm«, sagte Leo, »wir sollten …«
»Gar nichts sollten wir!« Guilhelmo spuckte beim Sprechen, so erregt war er. »Ginge es nach mir, so könnten wir gut und gerne auf euch Braunkutten mit eurem Armutsgeschwafel verzichten. Wozu das alles? Der große Benedikt hat uns doch zur Genüge vorexerziert, wie wir zu leben haben: ora et labora . Mönche gehören in ein Kloster. Und das Kloster braucht Besitz, um sie zu ernähren. Das war Hunderte von Jahren gut genug, und es wird gelten bis zum Ende aller Tage.«
Leo blieb äußerlich höflich. »Und doch sehe ich dich hier, Bruder Wilhelm«, sagte er, »außerhalb eines Klosters, wenn ich mich nicht irre. Wild argumentierend, als ginge es um dein Leben. Was soll das?«
Guilhelmo wurde noch eine Spur blasser. »Mein Leben geht dich gar nichts an«, sagte er schroff. »Ich bin hier, weil man mich braucht. Irgendwann werde ich in mein Kloster zurückkehren und dort genau so leben, wie die heilige Regel es verlangt – etwas, das ihr schäbiges Bettlerpack niemals verstehen werdet.« Er schnaubte abfällig. »Übrigens bist du ohnehin zu spät dran«, sagte er. »Zwei von euch Braunkutten haben schon vor ein paar Tagen Seine Exzellenz bis zum Erbrechen gelangweilt. Glaubst du vielleicht, den Bischof von Rieti kümmert es, ob es irgendwann eine neue Vita über San Francesco geben wird? Da hat er wahrhaft Wichtigeres zu tun!«
»Franziskanermönche?«, fragte Leo überrascht. »Wie hießen sie? Womöglich kenne ich die Brüder ja. Und was du da über eine neue Vita gesagt hast …«
»Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte.« Der Benediktiner verschränkte die dünnen Arme vor der Brust. »Es wird Zeit, dass du wieder verschwindest.«
»Du willst mich also nicht zum Bischof vorlassen?«, sagte Leo, der seinen Wunsch nach einem geistlichen Beistand längst abgeschrieben hatte.
Genüssliches Kopfschütteln. Guilhelmo schien seine Fassung wiedergefunden zu haben.
»Keinen von euch. Nie wieder. So und nicht anders lautet der Befehl, den Seine Exzellenz mir erteilt hat.« Sein Lächeln war schmal. »Und im Gegensatz zu euch wissen wir Benediktiner, was Gehorsam ist.« Er deutete zur Tür. »Und nun endlich hinaus mit dir! Der Bischof hasst es, wenn man ihn warten lässt.«
Alle Glocken des heiligen Tales begannen gemeinsam anzuschlagen, Sterbegeläut, erkennbar an den langen wiederkehrenden Pausen, die den Gläubigen ansagten, dass eine Seele zum Allmächtigen heimgegangen war. Nun huben auch die Klageweiber mit ihrem Geschrei an, schwarz verhüllte, ältere Frauen, deren brüchige Stimmen sich beinahe überschlugen, so lauthals trauerten sie.
Irritiert schaute Leo zu Stella, die die Achseln zuckte.
»In Assisi machen wir das, sobald jemand die Augen geschlossen hat«, flüsterte sie. »Und nicht erst, wenn man den Toten ins Grab legt. Vielleicht ein alter Brauch dieser Gegend? Eigentlich sollten diese Frauen am Grab sitzen und
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