Braut von Assisi
Pergament in der Hand, als er aus der Höhle kam, hast du nicht gesehen? Bevor die Steine ihn begraben haben«, sagte Leo. »Noch im Todeskampf hielt er ihn umklammert. Er muss also sehr wichtig für ihn gewesen sein.«
Leo zog seinen Beutel unter der Kutte hervor und legte das Stück Pergament hinein.
»Gestern hat er von einem kostbaren Schatz gesprochen«, sagte Stella nachdenklich. »So aufgeregt war er dabei gewesen! Allerdings hatte ich mir darunter etwas Wertvolles vorgestellt. «
»Wir werden darüber nachdenken«, sagte Leo. »In der Herberge, wenn wir beide wieder ruhiger geworden sind.« Er hustete, rieb an seiner Schläfe, konnte plötzlich kaum noch ruhig stehen. »Stella … was vorhin zwischen uns war …«
Sie sah ihn schweigend an.
»… hätte niemals geschehen dürfen. Du bist meiner Obhut anvertraut, und ich gehöre seit langen Jahren der Kirche. Wir müssen uns bemühen, es zu vergessen. Alle beide.«
Über ihnen zeigten sich die ersten Raben, zwei heiser krächzende schwarze Jäger, die die frische Beute offensichtlich schon im Visier hatten und immer engere Kreise zogen.
»Was sollte denn gewesen sein?« Stella war überrascht, wie dünn ihre eigene Stimme klingen konnte. »Du hast mein Leben gerettet. Und mich getröstet. Für beides werde ich dir immer dankbar sein.«
Sie drehte sich um und begann, wieder nach oben zu klettern.
Leo sah ihr nach, dann bückte er sich und bedeckte Sebastianos Kopf erneut mit Steinen, ganz vorsichtig, als fürchtete er, ihm wehzutun, jedoch sehr gründlich, um die tiefer kreisenden Aasfresser von ihrem Mahl abzuhalten.
Vier Steine schichtete er als Markierung übereinander, um den Toten im Geröllfeld später leichter zu finden. Drei für die lebenden Eremiten, einen für den, der nicht mehr am Leben war.
Erst danach folgte er ihr.
Aus Pinos Gesicht wich jegliche Farbe, als sie ihm in der Gaststube von dem Unglück berichteten. Antonella riss zunächst die Augen ungläubig auf und begann dann laut zu weinen.
»Und Euch beiden ist nichts zugestoßen?«, fragte der Wirt, als er sich schließlich halbwegs wieder gefasst hatte.
»Zum Glück nicht«, erwiderte Leo, und Stella übersetzte seine Antwort. »Obwohl wir nur ein paar Schritte entfernt waren. Gott muss seine schützende Hand über uns gehalten haben. Sonst stünden wir jetzt nicht vor Euch.«
»Ein Steinschlag, sagt Ihr?«, fuhr Antonella schluchzend auf. »Aber es gab doch gar keine Regenfälle, die eine Mure ausgelöst haben könnten! Der Himmel ist blau und wolkenlos.«
»Vielleicht ein großes Tier«, mischte sich nun Stella ein. »Mir war einen Moment, als hätte ich über uns etwas gehört. Gesehen aber habe ich allerdings nichts.«
»Ich muss den anderen Bescheid geben«, sagte Pino, noch immer fahlgrau. »Damit wir ihn wenigstens ordentlich beisetzen können. Unter der Felslawine darf er nicht bleiben.«
»Dazu müsst Ihr ihn erst einmal ausgraben«, sagte Leo, nachdem Stella für ihn übersetzt hatte. »Ich habe seinen Leichnam wieder sorgfältig mit Steinen bedeckt, damit in der Zwischenzeit keine Raubvögel über ihn herfallen können. Schickt am besten gleich ein Dutzend kräftiger Männer zur Einsiedelei!« Er zeigte seine mitgenommenen Hände. »Und nehmt ausreichend Schaufeln mit und Piken, wenn ihr welche habt. Die Brocken sind äußerst scharfkantig.«
Die Wirtsleute tuschelten miteinander, so leise, dass nicht einmal Stella etwas verstand.
»Sag ihnen, dass ich die Männer von Rieti zu der Stelle
bringen kann, wo der Tote liegt«, trug Leo Stella auf. »Ohne meine Hilfe würden sie sich bei der Bergung reichlich schwertun.«
»Dann will ich auch dabei sein«, verlangte sie.
»Ist das nicht zu gefährlich?«, fragte Leo leise. »Mir gefällt schon jetzt nicht, wie die beiden uns ansehen. Franziskus hat die Menschen von Rieti zwar ›gute Leute‹ genannt, aber Fremden gegenüber scheinen sie nicht sonderlich wohlgesinnt zu sein.«
Pino nickte zwar, als Stella Leos Angebot übersetzt hatte, doch Blick und Miene blieben skeptisch. Wortlos drehte er sich um und stürzte hinaus; seine Frau folgte ihm, ohne an die beiden Fremden noch ein weiteres Wort zu richten.
Leo zog sich in seine Kammer zurück, während Stella nach draußen wollte. Er hatte ihr ansehen können, wie schwer es ihr gefallen war, nach dem soeben Erlebten die Enge des niedrigen Raumes zu ertragen. Doch auch für ihn war es alles andere als einfach. Die Wände schienen plötzlich näher zu rücken, so
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