Braut von Assisi
nun an so überliefert werden konnte!
Der Papst schien seine Fassung wiedergefunden zu haben. Seine Miene war beinahe freundlich, nur der Blick blieb kalt.
»Du hast doch nichts Auffälliges bei deinen Recherchen gefunden, Bruder Leo?«, übersetzte Johannes.
»Vier tote Einsiedler«, erwiderte Leo. »Auffällig genug für meinen Geschmack.«
»Das meinen Wir nicht. Keinerlei Schriftstücke? Briefe?
Aufzeichnungen?«, bohrte Johannes auf Geheiß des Papstes weiter.
»Einer der Brüder starb unter einer Steinlawine, einer wurde kopfunter ans Kreuz geschlagen, ein anderer ist jämmerlich verbrannt … was auch immer Geschriebenes hätte solche Urgewalten überdauern sollen?«
Eine Weile blieb es still im Saal. Die Sonne war höher gestiegen und tauchte die Erlösten auf dem Bild in warmes Licht, während die Verdammten in immer tieferes Dunkel gerieten. Von wem dieses Gemälde auch stammte – der Künstler verstand sein Handwerk. War nun auch Leos Leben in Gefahr, in Finsternis unterzugehen, weil er sich entschlossen hatte, keine Mitwisser zu haben?
Zu seiner Überraschung hatte der Heilige Vater sich erhoben. Im Stehen wirkte er gebrechlicher als im Sitzen. Das lange Exil in Lyon und der jahrzehntelang Kampf gegen Kaiser Friedrich II. hatten Spuren hinterlassen. Man munkelte von schmerzhaften Gallenkoliken, von einem ständig gereizten Magen und schlaflosen Nächten. Manche gingen sogar so weit, ein baldiges Ableben in Erwägung zu ziehen. Doch würde ein Nachfolger sich dem Anliegen Chiaras energischer annehmen?
Innozenz IV. hob die Hand und schlug das Kreuzzeichen. »Wir segnen dich, Bruder Leo, und danken dir für die Mühen und Strapazen, denen du dich in Unserem Auftrag unterzogen hast. Wir wünschen dir, dass nun eine Phase der Erholung und Neubesinnung für dich beginnt, in der dein Herz wieder demütig und rein wird und du die Bilder des Schreckens vergessen kannst, die dich offenbar vergiftet haben. Der Herr sei mit dir – du bist entlassen. «
Leo rührte sich nicht vom Fleck.
»Aber Madre Chiara?«, sagte er. »Und ihr Armutsprivileg?
Was ist nun damit? Deshalb bin ich doch hier – oder etwa nicht?«
»Du wirst dich noch eine kurze Weile in Geduld fassen müssen«, übersetzte Johannes. »Ebenso wie sie selbst. Sag ihr das!«
»Und wenn sie vorher stirbt?«, rief Leo. »Jeden Tag kann es so weit sein. Was dann? Dann wäre ja alles umsonst gewesen! «
Das Gesicht des Generalministers war undurchdringlich. »Ich kann dir im Augenblick nichts anderes antworten. Seine Heiligkeit muss erst zu einem abschließenden Urteil gelangen. Der Rest liegt allein in Gottes Hand.«
Hatten sie ihn bereits erwartet?
Als Leo an die Pforten von San Damiano klopfte, wurde ihm so schnell geöffnet wie niemals zuvor. Gleich drei fromme Schwestern auf einmal nahmen ihn in Empfang, Suor Benedetta, Suor Beatrice und Suor Regula, die Infirmarin, die sogleich das Wort ergriff.
»Hast du es dabei, Bruder Leo?«, fragte sie begierig. »Bist du gekommen, um ihren Qualen endlich ein Ende zu bereiten? Wir alle hoffen so sehr für Madre Chiara – und für uns alle!«
»Wie geht es ihr?«, fragte Leo, um Zeit zu gewinnen.
»Von Tag zu Tag schlechter.« Regulas kantiges Gesicht wirkte bekümmert. »Es ist nicht nur der erschöpfte Körper, der ihr zu schaffen macht. Viel schlimmer sind das endlose Warten und die Angst, sie könnte sterben, ohne ihr geliebtes Armutsprivileg erhalten zu haben.« Regulas Ton wurde strenger. »Du bist doch nicht etwa mit leeren Händen gekommen? «
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Leo, was keine Lüge war, aber auch nicht die Wahrheit, die sie alle hier so sehr ersehnten. »Bringst du mich zu ihr?«
Magdalenas schlichtes Grab lag im hellen Sonnenschein. Mit einem Blick auf das Holzkreuz dachte Leo im Vorbeigehen: Du hättest deine Tochter geliebt. Und wie sehr hat Stella sich nach einer liebenden Mutter gesehnt, ein früher Schmerz, den sie niemals vergessen wird – ein Schmerz, den du selbst auch gekannt hast?
Vor der Krankenkammer blieb Leo stehen. »Lass uns nur zu zweit zu ihr hineingehen!«, bat er die Infirmarin. »Es geht um sehr persönliche Dinge, die ich mit ihr zu besprechen habe.«
»Aber Benedetta wird ihre Nachfolgerin sein, und Beatrice ist die leibliche Schwester …«
»Trotzdem!« Leo ließ sie nicht ausreden. »Komm einfach ausnahmsweise meiner Bitte nach!«
Regula redete leise auf die beiden anderen ein, die sich schließlich mit gerunzelter Stirn
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