Braut von Assisi
Jüngsten Gerichts, links die Verdammten, von hämisch grinsenden Teufelsscharen in ewige Finsternis gerissen, zur Rechten die Seligen, die ihre Gräber aufgebrochen hatten und zum Paradies aufsteigen durften.
Innozenz saß auf einem prunkvollen Sessel, wieder ganz in Weiß gekleidet, doch sein Gesicht wirkte angespannter als bei der letzten Begegnung. Dunkle Schatten unter seinen Augen deuteten darauf hin, dass ihn viele Sorgen quälten.
Hinter ihm stand Johannes von Parma, der Leo mit einem kurzen Begrüßungslächeln bedachte. Vom Rest des Gefolges war nichts zu sehen, doch der Palast war geräumig genug, um sie alle zu beherbergen.
»Nun, geschätzter Bruder«, sagte Johannes freundlich, »was haben deine Nachforschungen über Chiara von San Damiano ergeben? Seine Heiligkeit und auch ich könnten gespannter kaum sein.« Er beugte sich zum Papst und übersetzte.
Innozenz hob seine Hand mit dem Fischerring.
Nun war Leo an der Reihe. »Für mich ist das Ergebnis eindeutig«, sagte er. »Niemand verdient das Armutsprivileg mehr als diese fromme Frau. Erteilt es ihr, Madre Chiara ist seiner mehr als würdig! Sie hat ihr ganzes Leben danach ausgerichtet und steht fast gleichberechtigt neben Franziskus, ihrem großen Vorbild, der sie in allem angeleitet und beeinflusst hat. Dabei ist sie viel mehr als nur seine Jüngerin – eine große Liebende, bereit zu Hingabe und Demut.« Er hatte so leidenschaftlich, so überzeugend gesprochen, dass der Papst und Johannes von Parma tief beeindruckt waren.
Innozenz zog die Nase leicht hoch und begann zu reden. Johannes übersetzte fließend wie gewohnt: »Beim letzten Mal schienst du Uns allerdings noch nicht ganz so überzeugt. Was genau hat den Umschwung in dir bewirkt?«
»Meine Reise nach Rieti, beziehungsweise meine Rückkehr in das heilige Tal. Die Schandtaten von Abt Matteo …«
Der Heilige Vater hatte sich zu Johannes umgewandt und flüsterte ihm etwas zu.
»Er lässt dir sagen, dass Matteo inzwischen zu Tode gekommen ist. In seiner Zelle. Durch Selbstmord.«
»Aber kann das möglich sein?«, rief Leo. »Er lag doch in schweren Ketten!«
»Vermutlich ein Moment der Unachtsamkeit, wie er trotz aller Sorgfalt immer wieder vorkommt«, übersetzte Johannes. »Der Gefangene konnte seine Bewacher offenbar dazu bringen, ihn für kurze Zeit von den Fesseln freizumachen. Diese Gelegenheit hat er dazu benützt, um sich selbst zu richten. Er ist ohne die Gnade Gottes gestorben. Die Tore der Hölle haben sich hinter ihm geschlossen. Matteo ist verdammt bis in alle Ewigkeit.«
»Und sein Kumpan?« Leo fühlte sich plötzlich wie unter einer Steinwalze. »Jener angeblich Stumme, der mal sprechen konnte und dann wieder nicht? Ist er ebenfalls tot?«
Der schmale Mund des Papstes verzog sich, bevor er zu reden begann. Johannes von Parma fragte zweimal nach, bevor er übersetzte, und selbst dann schien ihm die Antwort einige Schwierigkeiten zu bereiten.
»Er lebt. Allerdings hat man ihn an einen sicheren Ort verbracht«, sagte er. »Besser, du weißt nicht zu viel darüber.«
»Warum?« Leos Augen hingen an Johannes’ Lippen.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Dann frag den Heiligen Vater, Bruder! Warum? Ich möchte es wissen!«
Die Antwort blieb aus.
»Vielleicht, weil solche Kreaturen sehr gut eingesetzt werden können?« Leo erschrak über das, was er da soeben gesagt hatte, doch er konnte und wollte jetzt nicht aufhören. »Man bedient sich ihrer, zieht sie danach ab, hält sie eine Weile versteckt – um sie bei passender Gelegenheit wieder ins Spiel zu bringen. Ist es das, Euere Heiligkeit, was Ihr vorhabt? Sieht so die lückenlose Aufklärung der Kurie aus, die Ihr anfangs versprochen habt?«
Innozenz war wütend, ungemein wütend sogar, das erkannte Leo an den grünlichen Augen des Papstes, die plötzlich alle Farbe verloren hatten und grau und trüb geworden waren. Und noch etwas begriff er in diesem Augenblick: Auch seiner hatte man sich bedient, kaum weniger skrupellos als des vorgeblich Stummen. Mochten die Taten Matteos dessen Besessenheit entsprungen sein – ein Mann wie Franziskus von Assisi, dessen Makel alle ausgemerzt waren, weil kein Einziger mehr am Leben war, der sie hätte bezeugen können, kam der Kirche mehr als gelegen. Ein Heiliger ohne Fehl und Tadel. Jemand, aus dessen Vita alles Straucheln, jeder Kampf, jede Niederlage entfernt worden waren.
Und er höchstpersönlich hatte einen entscheidenden Beitrag dazu geliefert, dass diese Vita von
Weitere Kostenlose Bücher