Braut von Assisi
sie in der Einsamkeit seines Zimmers verbracht, das ihm zur klösterlichen Zelle geworden war, hatte dort gebetet, meditiert oder geschrieben und trotz der verlockenden Angebote Simonettas, die immer wieder an seine Tür geklopft hatte, um ihn doch noch umzustimmen, bei Wasser und Brot gefastet. Nach und nach verblasste die Erinnerung an das, was er in Stellas Augen gelesen hatte – Angst, Resignation und Begehren, bewegende, äußerst gefährliche Gefühle, die ihn nichts angingen und die niemals für einen wie ihn bestimmt sein konnten. In einer außergewöhnlichen Situation
waren die junge Frau und er sich nähergekommen, als es für sie beide gut gewesen war. Das musste eine einmalige Angelegenheit bleiben, wie Leo sich fest vorgenommen hatte. Zusammen mit der längst fälligen äußerlichen Veränderung war der Prozess der Reinigung nun für ihn abgeschlossen, und er fühlte sich wieder kräftig und vor allem würdig genug, um sich erneut an seine große Aufgabe zu wagen.
Was ihm allerdings noch immer Sorgen bereitete, war die Dumpfheit im Hinterkopf, die ihm nach wie vor gelegentliche Schwindelattacken und ein anhaltendes Gefühl leichter Benommenheit bescherte. Da er aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse den hiesigen Badern noch mehr misstraute als jenen zu Hause in Ulm und die Hilfe Stellas nicht noch einmal voreilig in Anspruch nehmen wollte, beschloss er, sich dem Infirmar anzuvertrauen.
Wie groß und gut ausgestattet dieses neue Kloster war, das an die Grablegungskirche des heiligen Franziskus grenzte! Erbaut in hellem Sandstein, war mit Sacro Convento ein gewaltiger Komplex erstanden, der neben der neuen Doppelkirche, die kurz vor ihrer Einweihung stand, das Stadtbild Assisis entscheidend prägte. Der Zustrom an Mönchen schien ungebremst; aus allen Teilen des Landes und sogar von jenseits der Grenzen kamen sie, um zu beten und zu leben, wo einst der Heilige gewirkt hatte. Der Gegensatz zur Bergeinsamkeit der Carceri hätte größer nicht sein können, und es fiel Leo bedeutend schwerer, hier den Geist Francescos zu spüren als noch zwei Tage zuvor angesichts der armseligen Reisighütten und Felsenhöhlen am Monte Subasio.
Fra Orsino erwies sich als Hüne mit freundlichem Gesicht und so riesigen Pranken, dass Leo im ersten Augenblick erschrak. Doch sie berührten ihn sanft, und seine anfängliche
Befürchtung, sie könnten seinem lädierten Schädel mehr schaden als womöglich nützen, verflog schnell. Orsino tastete ihn ebenso sorgfältig wie kundig ab, ließ ihn anschließend den Kopf nach von, hinten und zur Seite bewegen, dann blickte er ihn aus runden Kinderaugen mitleidig an.
»Sei caduto?«
»Sì.« Leo nickte. »Ich bin vom Pferd gefallen, weil dieser Aussätzige plötzlich im Weg stand …« Er hielt inne, unfähig, all die Einzelheiten in der fremden Sprache auch nur einigermaßen verständlich auszudrücken, was den anderen allerdings in keiner Weise zu stören schien.
Der Infirmar schritt so zügig durch die kleine Apotheke, dass sein stattlicher Bauch unter der Kutte wabbelte und Leo regelrecht Angst um die tönernen Gefäße bekam, die dicht an dicht auf den schmalen Regalen standen und bei jeder Bewegung erzitterten. Aus einem Topf entnahm er eine gelbe Salbe, aus einem anderen ein grünliches, fein zermösertes Pulver. Die Erstere verrieb er großzügig auf Leos Kopf, das Zweite schüttete er ihm auf den Handrücken und machte danach wortlos vor, wie er es nach Ziegenart ablecken solle.
Leo gehorchte.
Das Pulver schmeckte so gallenbitter, dass ihm augenblicklich das Wasser in die Augen stieg, was den Mann mit dem Bärennamen, der wie gemacht für ihn schien, zu vergnügtem Gelächter veranlasste.
»La medicina non deve essere buona, deve far bene« , rief er, während die Regale dabei erneut bedenklich ins Schwanken gerieten.
Diesen Spruch kannte Leo bereits aus dem heimatlichen Kloster, sodass er ausnahmsweise jedes Wort verstanden hatte: »Medizin muss heilen, nicht schmecken«. Wenn
der Heilungserfolg von der Ekelhaftigkeit des Mittels abhing, dann würde er wahrlich bald beschwerdefrei sein.
Doch Orsino war noch nicht am Ende angelangt. Aus einem kleinen Eimer schöpfte er mithilfe eines Bechers einige bräunliche Würmer und setzte einen auf Leos Arm, den er zuvor geschickt ein Stück entblößt hatte.
Blutegel! Der Schreck war so groß, dass Leo sich schüttelte und der Wurm zu Boden fiel, wo er zuckend liegen blieb.
Jetzt lachte Fra Orsino abermals, so schallend, dass
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