Braut von Assisi
Jetzt stand auf einmal der Visitator vor dem Abt, und obwohl dieser das Mutterhaus aller Franziskaner leitete, war die Hierarchie doch eindeutig.
Matteo gelang es überraschend schnell, sich wieder zu fangen. »Man hat mir von ihr erzählt«, sagte er vage. »Mehr dazu kann ich dir nicht sagen. Du musst wissen, Elias von Cortona hatte mich über lange Jahre zu seinem engsten Vertrauten in allen Bauangelegenheiten von San Francesco gemacht. Dazu der Klosteralltag, die Brüder von nah und fern mit all ihren Nöten und Wünschen – da blieb so gut wie keine Zeit für andere Dinge, wie du dir sicherlich vorstellen kannst.«
Leo musterte ihn, doch das hagere Gesicht mit den
scharfen Linien um Mund und Nase verriet keinerlei Empfindung.
»Wer aus dem Sacro Convento ist der Beichtvater der Schwestern?«, fragte Leo weiter.
»Padre Eligio. Normalerweise hält er dort auch die Gottesdienste. In unserer Gemeinschaft leben derzeit nur drei geweihte Priester, und einer von ihnen bin ich. Daran siehst du schon, wie sehr wir uns in allem aufteilen müssen.« Er begann zu blinzeln, als sei ihm ein Insekt ins Auge geflogen. »Doch zurzeit ist er leider krank. Starke Unbill ist ihm in den Magen gefahren, und er kann das Essen nicht mehr bei sich behalten. Aber dank Bruder Orsinos guter Pflege wird er sicherlich bald wieder genesen sein – so jedenfalls hoffen wir.«
Alles nur Zufall? Oder konnte auch böse Absicht dahinterstecken?
Ohne die Unterstützung des Bruderklosters waren die Nonnen von San Damiano vorübergehend ganz auf sich allein gestellt gewesen.
»Kann ich ihn sprechen?«, fragte Leo.
»Warum nicht? Von mir aus gern, sobald er wieder auf dem Damm sein wird.« Das Blinzeln war verschwunden. Jetzt fixierten Matteos wasserblaue Augen Leo misstrauisch. »Wie lang wirst du in Assisi bleiben?«
»Bis meine Mission beendet ist«, erwiderte Leo. »Bruder Eligio gleich zu sehen, wäre am hilfreichsten. Gehen wir?«
»Das ist leider unmöglich!« Abwehrend hatte Abt Matteo beide Hände erhoben. »Eligio braucht dringend Ruhe, sonst könnte die schwarze Galle erneut in ihm hochkochen und seine Eingeweide verätzen. Komm besser dieser Tage noch einmal zu uns! Dann werde ich sehen, inwieweit ich dir helfen kann.«
Erneut schaute er zu den Rosetten hinauf.
»Hast du verstanden, was ich dir vorhin demonstrieren wollte?«, fragte er eindringlich. »Das ist sehr wichtig.«
»Die Zahl der Kreise der Rosetten …«
»Nein!« Jetzt schrie der Abt, so aufgeregt schien er. Einige der Bauleute ließen ihr Werkzeug sinken und schauten erstaunt zu den beiden Mönchen, dann aber fuhren sie mit ihrer Arbeit fort. »Du hast leider nichts begriffen, Bruder Leo! Verzeih bitte meine schonungslose Offenheit, aber in diesem Fall muss ich so direkt sein. Du bist blind – vollkommen blind!«
»Dann mach du mich sehend! Ich liebe es zu lernen.« Leos Stimme war ruhig.
»Um die Reinheit geht es, einzig und allein sie zählt. Die Sonne Assisis muss heller strahlen als jenes Gestirn, das jeden Tag vom Himmel scheint, und kein Weib dieser Welt darf sich davorschieben. Dafür werde ich im Gedenken an Bruder Elias kämpfen bis zum allerletzten Atemzug. «
Er machte eine kurze Pause.
»Was er mit Stein und Mörtel erschaffen hat, will ich mit Feder und Pergament versuchen. Man hat mich auserwählt, eine neue Vita Francescos zu verfassen. Dafür lebe und sterbe ich.«
Matteos leidenschaftliche Worte hallten lange in Leo nach. Er hatte dringend Abstand gebraucht – vom Kloster, von der riesigen Kirche, die allem entgegengesetzt war, was Franziskus jemals angestrebt hatte, vor allem aber von dem hasserfüllten Gesicht des Abtes, das ihm auf einmal wie eine Fratze erschienen war.
Natürlich war er draußen vor der Fassade noch einmal stehen geblieben, um die Ringe der unteren Rosette zu zählen – und es waren tatsächlich vier gewesen, genauso
wie Matteo gesagt hatte. Lag in seinen Worten mehr Wahrheit verborgen, als ihm womöglich selbst bewusst war?
Noch immer tief in Gedanken versunken, streifte Leo durch die Stadt. Aus den offenen Werkstätten und kleinen Läden drangen Stimmen und Gelächter. Kinder spielten in den staubigen Gassen. Zwei gescheckte Hunde hefteten sich an seine Fersen und folgten ihm eine ganze Weile. Würde er hier irgendwo die Frau wiederfinden, die ihn zu den Lucarellis gebracht hatte?
Inzwischen gab es eine ganze Menge, wonach er sie gern gefragt hätte. Er hielt es schon eine ganze Weile nicht mehr für einen
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