Braut von Assisi
Stolz. »Für Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, so will ich meinen. Eines Tages wird San Francesco zu den schönsten Gotteshäusern des Abendlandes zählen. Für jenen
Tag lebe ich – und würde dafür frohen Herzens jederzeit in den Tod gehen.«
»Ist das sein Grab?«, fragte Leo und blieb bei dem grob behauenen Felsbrocken stehen, vor dem ein bescheidener Altar aufgebaut war.
Der Abt nickte.
»Dann möchte ich jetzt gern ein Weilchen mit ihm allein sein.«
Obwohl Matteo stehen blieb wie angewurzelt, kniete Leo nieder und versuchte, sich ins Gebet zu versenken. Doch es wollte ihm weniger gut gelingen als während des anstrengenden Aufstiegs auf den Monte Subasio.
Unter wie vielen Tonnen Stein und Mörtel man Franziskus hier versenkt haben mochte? Er, der die Natur, die Blumen, Insekten und Vögel so sehr geliebt hatte, lag nun im tiefsten Grund bestattet, zumindest erschien es Leo so. Er war klug genug, seine zwiespältigen Eindrücke für sich zu behalten, als ihn Abt Matteo weiter in die Oberkiche trieb.
Das Gotteshaus war einschiffig und so gewaltig, dass es Leo beinahe den Atem verschlug, ein riesiger, imposanter Bau, dessen Deckengewölbe gen Himmel zu streben schien. Überall sah Leo hölzerne Gerüste, die offenbar gerade abgebaut wurden, denn es wimmelte geradezu von Handwerkern und Bauleuten, die in ihre Arbeit vertieft schienen. Bis auf einen zarten Anstrich waren auch hier die Mauern noch nackt – welch unbegrenzte Möglichkeit für Künstler, sich zu entfalten!
»Einst wird die Wände ein Freskenzyklus mit Szenen aus dem Leben Francescos zieren«, hörte er den Abt murmeln. »Dann erst ist Fra Elias’ Lebenswerk vollendet, und keiner wird mehr wagen, die Vita des Heiligen zu verdrehen oder zu verfälschen.«
Was meinte er damit? Doch bevor Leo nachfragen konnte, hatte Matteo ihn schon weitergezerrt. Mit verzückter Miene deutete er auf die beiden Rosetten der Fassade, die hoch über ihnen das Mauerwerk durchbrachen.
Ein beeindruckender Anblick – keine Frage! Sonnenlicht strömte durch die Glasfenster und tauchte den riesigen Raum in goldenes Licht. Ein Gefühl tiefen Friedens erfüllte Leo, und plötzlich war es ihm, als spüre er Franziskus ganz dicht neben sich.
Dann freilich verdrängte die kehlige Stimme des Abts unerbittlich seine Ergriffenheit: »Sie enthalten viele der tiefsten Geheimnisse Francescos. Betrachte nur einmal die untere Rosette – wie viele Felder zählst du?«
»Zwölf«, erwiderte Leo unwillig, weil er sich in seiner Versenkung gestört fühlte.
»Zwölf wie die Apostel Jesu – und zwölf wie die erste Gemeinschaft der Minoriten. Wie viele Ringe hat sie?«
»Ich sehe drei«, sagte Leo, der noch immer nicht wusste, wohin das alles führen sollte.
»Ja, von innen gesehen ist das wohl richtig, doch wenn du sie von außen betrachtest, wirst du vier davon erkennen. Im äußeren Ring sind vierundvierzig kleine und große Kreisformen durch ein Endlosband verbunden – das steht für die vierundvierzig Lebensjahre Francescos. Im nächsten Ring kannst du dann zweimal dreiundzwanzig Kreise ausmachen – worauf deutet das hin?«
Leo zuckte die Schultern.
»Denk nach!«, verlangte der Abt. »Du weißt es.«
»Da täuschst du dich gewaltig. Ich bin kein Gelehrter und weiß es leider nicht.«
»Doch, doch – du kommst nur gerade nicht darauf. Natürlich auf die dreiundzwanzig Ordensregeln Francescos. Sieh dir nun den dritten Ring an – er enthält vierzehn kleinere
Kreise, was nichts anderes bedeutet als zweimal sieben und damit die heilige Zahl Christi …«
»Was weißt du über Suor Magdalena?«, unterbrach ihn Leo schroff. »Jenes Findelkind des Klosters, dessen Geschichte die ganze Stadt zu kennen scheint?«
»Nichts.« Abt Matteos Stimme hatte sich verändert, war jetzt leiser und klang auf einmal gepresst. »So gut wie nichts. Wieso interessierst du dich ausgerechnet für diese arme Seele?«
»Sie starb vor einigen Tagen in San Damiano.«
»Sie ist tot?« Klang das nicht zutiefst erleichtert? »Dann hat ihr langes Leiden ein Ende.«
»Woran genau hat sie denn gelitten?«
»Für manche heißt die Krankheit ›Leben‹, und sie würgen daran wie an einem zu groß geratenen Brocken, der ihnen auch noch quer im Schlund steckt. Der Allmächtige stehe ihrer Seele bei!«
»Das klingt in meinen Ohren, als hättest du sie doch ganz gut gekannt.« Jegliche Verbindlichkeit war aus Leos Ton gewichen, und ihm war klar, dass auch Matteo dies so empfinden musste.
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