Braut von Assisi
Kein anständiger Mann wird nach diesem Auftritt jemals mehr um dich freien – ich denke, das weißt du ebenso gut wie ich.«
»Aber ich habe doch gar nichts falsch gemacht!«, hatte Stella aufbegehrt, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. »Die Schande lastet auf Carlo, nicht auf mir!«
»Ach, Kind!« Wieder dieses abgrundtiefe Seufzen, das Stella von jeher zutiefst zuwider gewesen war. »Darum geht es doch gar nicht. Ein Mädchen aus guter Familie braucht eben einen untadeligen Ruf. Und deiner ist leider beschädigt. Nimm den Schleier! Nur so kannst du dich einigermaßen reinwaschen.«
Für einen Augenblick war sie kurz davor gewesen, der Ziehmutter ins Gesicht zu schleudern, was alles in ihr rumorte:
dass ihre leibliche Tochter alles andere als eine keusche Braut war, dass sie auf Carlos Werbung nur eingegangen war, weil der Druck der Familie sich immer weiter verstärkt hatte, dass sie ihn lediglich um Ilarias willen überhaupt noch einmal angehört hatte, dass er im Stall versucht hatte, sie zu vergewaltigen, um die Hochzeit doch noch zu erzwingen. Aber wozu?
Simonetta hatte ihre Ziehtochter abgeschrieben, das erkannte Stella an ihrem Blick, der durch sie hindurchging, als bestünde sie aus Glas. Was immer sie auch sagen würde, die ehrgeizige Händlersgattin würde es nicht erreichen. In deren Welt gab es nur Schwarz und Weiß, und sie war unglücklicherweise auf die verkehrte Seite gerutscht.
Und Vasco, der immer ein gutes Wort für sie eingelegt hatte? Mehrere Male hatte sie Simonetta angefleht, ihn wenigstens kurz sprechen zu dürfen, doch die Ziehmutter hatte jedes Mal kategorisch abgelehnt. Weil sie wusste, dass ihr Mann Stellas Flehen auf Dauer nicht standhalten würde? Oder gab es andere Gründe, ihr diese Bitte zu verweigern?
Mittlerweile war Stella von den vielen Gedanken, die sich unablässig in ihrem Kopf drehten, ganz müde und verwirrt.
Blieb nur noch Ilaria.
Doch selbst die hatte sich in den letzten Tagen auf merkwürdige Weise verwandelt. Wo war die launige Gefährtin der Kindheitstage geblieben, der Wildfang, stets und überall zu Streichen und kleinen Listen aufgelegt? Ilaria verabscheute Carlo für das, was er Stella hatte antun wollen. Und dennoch hatte sie den Gedanken an eine Ehe zwischen Stella und ihm noch nicht ganz aufgegeben.
»Irgendwann wird in Assisi der Klatsch aufhören«, lautete ihr Argument. »Bastard hin, Bastard her! Hat der alte
Conte etwa einen anderen Sohn? Na also! Wer außer Carlo soll einmal sein Erbe antreten? Das, Sternchen, solltest du dir zunutze machen!«
»Und wenn das alles gar nicht mehr wichtig für mich ist? Erbe. Reichtum. Sicherheit. Was bedeutet das schon? Ich hätte tot sein können oder schwer verletzt, hätte Leo mich nicht gerettet.«
»Er hat dich tatsächlich verhext.« Ilarias schön geschwungene Lippen hatten sich abschätzig verzogen. »Inzwischen bin ich mir so gut wie sicher. Aber ich werde nicht länger tatenlos dabei zusehen, das musst du wissen! Dieser Mönch treibt sein Spiel mit dir. Doch du scheinst weit und breit die Einzige zu sein, die nichts davon bemerkt.«
Stella schloss die Augen und legte sich zurück auf das schmale Bett, doch keine Bilder wollten sich einstellen, nicht einmal Leos besorgtes Gesicht, das sie in ihrer Vorstellung während der letzten schrecklichen Tage getröstet hatte.
Und wenn die Schwester doch recht hatte und er ihre Zuneigung lediglich ausnutzte, um zu bekommen, was ihm sonst verwehrt bleiben würde?
Sie lügt, lügt, lügt, dachte Stella und konnte doch nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden. Niemand auf der ganzen Welt kann verstehen, wie es in mir aussieht.
Sie war schon dabei, die Kerzen zu löschen und sich die dünne Sommerdecke über den Kopf zu ziehen, um sich ins Dunkel zu flüchten, als plötzlich laut an die Haustüre geschlagen wurde.
Stella lief ans Fenster – und staunte, als sie erkannte, wer da so spät noch Einlass im Haus der Lucarellis begehrte.
Giacomo Morra, der erst neulich die schöne blaue Seide für seine schwangere Frau in Vascos großem Warenlager erstanden hatte, in Begleitung zweier Männer, die rote Fetzen
am Wams als städtische Büttel auswiesen, dazu Abt Matteo vom Sacro Convento, der Ilaria und ihr vor vielen Jahren die erste heilige Kommunion gespendet hatte.
Nicht zum ersten Mal hatte Leo sich für den Weg durch den Stall entschieden, um leise und schnell ins Haus zu gelangen. Doch heute packten zu seiner Verblüffung zwei kräftige Männer
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