Braut von Assisi
doch war Stella ihr in den letzten Tagen so fremd geworden.
Sie räusperte sich, um ihre Gegenwart anzuzeigen, doch von der anderen Seite des Gitters kam keine Antwort.
Ilaria suchte nach einer bequemeren Position. Es machte ihr nichts aus, dass der Priester offenbar seinen Platz noch nicht eingenommen hatte. Sie war ja heute ein wenig früher dran, um ihre Gedanken zu ordnen und wenigstens einen Teil der inneren Ruhe zurückzugewinnen, die ihr seit den turbulenten Ereignissen der letzten Tage abhandengekommen war. Um die Hände hatte sie den Rosenkranz aus Bergkristall geschlungen, den Federico ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn berührte, fühlte sie sich so klar und rein wie die durchsichtigen Halbedelsteine, um vieles unschuldiger, als ihr leidenschaftlicher, liebesbereiter Körper es ihr sonst gestattete.
Wie sehr sie sich danach sehnte, Federicos Frau zu sein, damit sie endlich mit dem in Einklang leben konnte, was die strengen Vorgaben der Kirche von ihr verlangten! Die lange Verlobungszeit hatte sie auf eine allzu harte Probe gestellt und dazu gebracht, Dinge zu tun, die eigentlich verboten waren. Die meiste Zeit gelang es ihr, sie einfach aus ihrem Kopf zu verscheuchen, doch manchmal schämte sie sich auch dafür. Es machte ihr nichts aus, wie hart die Holzbank war, die ihre Knie gerade drückte; in diesem Moment genoss sie es sogar.
Hinter dem Holzgitter meinte sie eine Bewegung zu erkennen.
»Padre?« , flüsterte sie. »Ich bin gekommen, um die heilige
Beichte abzulegen. Ich habe gesündigt.« Sie atmete tief. »Obwohl ich es nicht wollte, aber …«
»Sprich!«, kam es undeutlich von der anderen Seite. »Sag, was dich bedrückt! Ich höre.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Ilaria leise. »Vielleicht damit, dass ich meiner Schwester einen falschen Rat gegeben habe. Ich liebe sie sehr, das wisst Ihr, und eigentlich haben wir uns auch immer bestens verstanden, doch seit jenen schrecklichen Momenten auf der Piazza Communale, wo ihr Verlobter Carlo vor der ganzen Stadt als Bastard bloßgestellt wurde, ist nichts mehr wie bisher. Carlo war verzweifelt nach jenem Vorfall, vollkommen außer sich, und er hat mich um Hilfe angefleht. Ich war es, die Stella geraten hat, ihn wenigstens noch einmal anzuhören. Wie hätte ich ahnen können, dass er die Gelegenheit ausnützen würde, um ihr so wehzutun? «
Hinter dem Gitter war ein schmerzerfüllter Laut zu hören, und auch Ilaria presste die Hand auf ihr wild schlagendes Herz.
»Nein, nein!«, rief sie. »Das seht Ihr ganz falsch, padre , er hat sie gottlob nicht geschändet! Bevor es dazu kommen konnte, ist zum Glück ein deutscher Mönch eingeschritten, Padre Leo, der seit einiger Zeit bei uns wohnt und gerade nach seinem Pferd sehen wollte. Carlo hatte Stella bereits brutal gefesselt und ihr weißes Kleid zerschnitten, und seitdem ist sie nicht mehr sie selbst. Sie hat sogar ihre schönen Haare abgesäbelt, redet ganz merkwürdige Dinge, und hätte Mamma sie nicht eingesperrt …«
Es klang, als sei der Priester auf der anderen Seite von der Bank gefallen.
»Padre!« , rief Ilaria. »Was ist mit Euch? Habt Ihr Euch verletzt?«
»Sie wurde eingesperrt? Wo genau im Haus?«, kam es dumpf von der anderen Seite.
»Im alten Ammenzimmer«, erwiderte Ilaria mit leichter Verwunderung, weil der Beichtvater auf einmal alles so genau wissen wollte. »Und dort hab ich auch freiwillig mit ihr zusammen eine Nacht verbracht, um ihr den Kopf wieder zurechtzurücken. Mamma möchte nämlich, dass Stella ins Kloster geht, aber Stella will unbedingt diesem fremden Mönch folgen, stellt Euch das nur einmal …«
Das Gitter wurde geöffnet. Ilaria starrte ins Dunkel.
»Padre?« , flüsterte sie. »Was hab ich denn…«
Eine Faust kam zu ihr herüber, schwielig und abgearbeitet, aber eindeutig keine Männerfaust, wie Ilaria sofort erkannte.
Als die Faust sich langsam öffnete, glänzte ein Schlüssel in der Handfläche.
»Ich hab ihn immer aufbewahrt. All die Jahre. Jetzt endlich weiß ich, wofür«, sagte eine Frauenstimme.
»Marta?«, flüsterte Ilaria. »Marta! Dann hab ich neulich doch richtig gesehen. Aber wo warst du nur die ganze Zeit?«
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Du musst ihr den Schlüssel geben, hörst du? Stella darf nicht ins Kloster abgeschoben werden. Verhilf ihr zu ihrer Freiheit, Ilaria! Sie wird ihren eigenen Weg finden.«
»Aber wenn sie doch in ihr Unglück rennt …«
»Jeder hat
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