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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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neben der rauen Wand fallen, die unter ihren Füßen abbröckelt. Frank packt ihren Arm, ein Griff wie eine Daumenschraube, er krallt sich mit einer Hand in ihre Kleider und zieht sie hoch, er raunt ihr in wütendem Ton etwas zu, was keinerlei Bedeutung hat. Er zwingt sie dazu, mit zurück nach Rotorua zu fahren. Polizei, Krankenwagen, Rettungsdienste. Im Dunklen lassen sich Männer in Schutzanzügen in die Tiefe hinab, auf dem Weg zu der kleinen Leiche, die dort mutterseelenallein auf dem Boden der Hölle liegt, von den giftigen Dämpfen gnadenlos angefressen, bis nichts mehr davon übrig ist als ein blutiger, verkohlter Stumpf. Der Sarg wird sofort verschlossen und nicht mehr aufgemacht werden. Sie schreit weiter, woher wissen sie so genau, dass er tot ist? Sie geben ihr eine Spritze. Auf der Beerdigung will Hans sie nicht einmal ansehen. Zu Hause kratzt sie mit den Nägeln die Tapeten streifenweise von den Wänden. Bald gibt es für sie keinen Grund mehr zu leben. Dann macht sie sich auf, denn sie hat den Jungen noch nicht gefunden. Nach Jahren stellt sich heraus, dass er die ganze Zeit über unter dem Metallbett in der Anstalt gewartet hat. Kuckuck, da bin ich. Zusammen verstecken die beiden sich dort, bis endlich der Tag des Gnadentods gekommen ist. Und jetzt ist sie auf dem Weg zu ihm.
    Doch gleichzeitig ist Marjorie hier, und hier ist viel Kraft und ein kühler Kopf gefragt. So schnell wie möglich tastet sie sich an den Rand des nächsten Kraters heran und versucht, durch den Dampf hindurch den Boden zu entdecken. Sie nimmt die Hand vom Mund und ruft seinen Namen, solange sie sich noch aufrecht halten kann. Dann sucht sie tastend nach einem Baum oder Strauch hinter sich. Ein paar Meter weiter, außer Sichtweite, im dichten Nebel, hört sie, wie sich Ada murmelnd nähert.
     
    Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, die längsten zwanzig Minuten ihres Lebens, in einer feindseligen Landschaft, die all das nicht kümmerte, sondern sie vielmehr in Form von Totenköpfen auf den Warnschildern angrinste. Dann hörte sie Ada rufen. »Ich habe ihn! Hier!«
    Als sie Adas Spur gefolgt war und den Ort erreicht hatte, trug Frank das Kind bereits auf dem Arm. Ada stand ihm direkt gegenüber, das Kind hing zwischen ihnen. Es schien, als wollten sie einander von etwas überzeugen, doch als sie Marjorie ankommen sahen, wichen sie einen Schritt zurück und schwiegen. Er lebt, nickte Frank ihr zu. Das Kind war bewusstlos, sein Gesicht blutüberströmt. Sein Hemd klebte merkwürdig an seinem Körper. Marjorie strich ganz vorsichtig mit den Händen über seine Gliedmaßen, betastete seine Rippen, sein Schlüsselbein, seinen Schädel. Komm, sagte Frank. Marjorie griff das Fußgelenk des Jungen und ließ es von da an nicht mehr los. Sie fühlte die Wärme der Haut unter ihren Fingern, fühlte das Leben durch seine Zellen strömen und wusste nicht, ob es so bleiben würde, wenn sie losließ. So schnell wie möglich – doch das war schrecklich langsam – suchten sie sich einen Weg zurück durch den Nebel, in Richtung der Rufe von Esther, die auf dem Weg zurückgeblieben war. Marjorie konzentrierte sich auf die Dinge, die unverändert schienen: die ausgeleierten Bündchen seiner Jungensocken, die schon zu oft gewaschen worden waren, die dreckigen Schnürbänder seiner Turnschuhe, mit Doppelknoten, wie sie es ihm beigebracht hatte. Mitten auf dem Weg stand Esther, versteinert – oder verzaubert. Sie nahmen den direkten Weg zurück zum Parkplatz, ihre Gesichter zu schrecklichen Fratzen verzogen. Von Zeit zu Zeit stöhnte das Kind, doch die Augen machte es nicht auf. Sie hielt seinen Knöchel weiter umfasst und rief ihm leise Worte zu, ausgedachte, lockende Worte. Um sie herum wurde es schnell dunkel. Ada und Esther rannten voraus, die Schuhe in den Händen. Marjorie sah, wie ihre Fußsohlen im Nebel verschwanden. »Es kann sein«, keuchte Frank, »dass wir Glück gehabt haben.« Mit kurzen, mühsam hervorgestoßenen Sätzen berichtete er, was passiert war.
    Das Kind hatte in der Mitte eines breiten, ziemlich flachen Kraters gelegen. Wahrscheinlich war er irgendwo dort in der Nähe ohnmächtig geworden und dann nach unten gerollt. Ein hervorstehendes Plateau hatte seinen Fall gestoppt. Weiter sprachen sie nicht darüber, weil es zu unheimlich war, ihre Hoffnung in Worte zu fassen. Der Parkplatz war bis auf den Jeep vollkommen verlassen. Frank rief den anderen zu, dass Marjorie vorne sitzen sollte. Im Jeep nahm sie ihm das Kind ab.

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