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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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gibt es auch keinen Grund zur Beunruhigung. Sie sahen suchend in die Runde, ihren Gesichtern war scheinbar nichts anzumerken. Sie liefen den Weg auf und ab, als hätten sie einen Regenschirm oder eine Wanderkarte verloren. Dann legte Marjorie die Hände an den Mund.
    »Bobby!«
    »Still«, mahnte Frank leise.
    Sie erhoben die Köpfe und lauschten. Marjorie hörte auf zu atmen, hielt die Zeit an. Das Leben musste auf der Stelle stillstehen. Einen Moment lang war nur das Rauschen der Bäume zu hören, dann hörten sie irgendwo weit aus dem abgesperrten Gebiet heraus seine fröhliche Stimme: »Mum, siehst du mich? Kannst du mich sehen?« Ihr Herz wie ein Vogel, der mit schlagenden Flügeln versuchte, sich aus einem Busch zu befreien. Sie hielt sich an der Balustrade fest.
    »Ganz ruhig antworten«, sagte Frank, aber das wusste sie schon selbst. »Nein, Liebling«, rief sie und warf ihre Worte wie eine Bambusangel in den Nebel hinaus, in der Hoffnung, dass ihr Kind danach schnappen würde, »ich kann dich nicht sehen. Wo bist du denn?«
    »Hier!«
    Sie sahen einander an. Es war nicht mehr als eine vage Richtungsanweisung im dicken Nebel. Frank sagte, dass sie das Kind weiter ins Gespräch verwickeln sollte, und kletterte über die Absperrung. »Darling«, rief Marjorie, »komm doch einen Moment zu mir, ich kann dich nicht sehen, ich finde es unheimlich.« Zu spät ging ihr auf, dass ihn solche Worte normalerweise nur zu weiteren Waghalsigkeiten ermunterten. »Ich meine es ernst, Bobby, komm zurück!«, fügte sie streng hinzu. Doch Frank schüttelte den Kopf. »Mach das nicht«, sagte er, »nicht versuchen, ihn hierherzulocken, das ist zu gefährlich, er darf sich nicht von der Stelle bewegen. Red weiter mit ihm, dann kann ich mich orientieren.« Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Bobby«, rief er, »kannst du mich hören? Kannst du hören, was ich sage?«
    Irgendwo erklang ein Geräusch. Es war nicht leicht einzuordnen, konnte auch von einem herunterfallenden Ast stammen oder einem Stein, der aus der Kraterwand herausgebrochen war.
    »Bobby darling«, rief sie, »was machst du da?« Sie versuchte, mit ihrer Stimme und ihren Augen den Nebel zu durchbrechen, und wiederholte ihre Frage.
    Keine Antwort.
    Auf einmal riefen sie alle durcheinander seinen Namen und lauschten konzentriert. Marjorie versuchte sich vorzustellen, wie er dastand und sich ins Fäustchen lachte, weil er alle Erwachsenen in Aufregung versetzte. Es wollte ihr nicht gelingen.
    Sie schrie: »Bobby, antworte! Hier hört der Spaß auf!«
    Sie wiederholte es noch einmal, musste sich dann aber festhalten, da ihr schwindelig wurde. »Nicht so laut«, mahnte Frank, »das macht dein Kreislauf nicht mit, der Schwefel raubt dir die Kräfte.« Sie horchten konzentriert in die Stille. Keiner von ihnen wagte es, den anderen anzusehen.
    Das Kind gab kein Lebenszeichen von sich.
    »Verdammt«, sagte Frank, und der Klang seiner Stimme zerstörte Marjories Hoffnung und zog sie in eine andere Dimension. Sie kletterte über die Balustrade und trat in den Nebel hinaus.
     
    Schritt für Schritt schiebt sie sich durch die Dämpfe, der Boden unter ihren Füßen wie eine verräterische Falltür, die sich jeden Moment öffnen kann. Ihre linke Hand hält sie schützend über Mund und Nase, mit der rechten tastet sie nach Sträuchern und Bäumen, um sich daran festzuhalten. Das Atmen fällt ihr schwer. Wenn der Schwindel es zulässt, lässt sie ihren Mund frei und schreit zwei-, dreimal seinen Namen, bis die Erde anfängt, sich zu drehen und sie an einem Strauch Halt suchen muss. Sie bleibt vornübergebeugt stehen, sieht ihre dreckigen, weiß verstaubten Schuhe an, ohne sie wirklich zu sehen. Auch die anderen rufen den Namen des Kindes. Das Geräusch erklingt aus allen Richtungen. Dann die Stimme von Frank: »Du hier lang, ich hier!« Sie selbst hat keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen muss, doch das Ziel steht ihr klar vor Augen.
    Blitzschnell spielt sich der ganze Film vor ihrem inneren Auge ab: Sie finden ihn unten in einem Krater, verbrannt, leblos, die Haut abgeblättert von dem beißenden Gift. Ein kleiner, unwiederbringlich verkrüppelter Körper, der in einer unnatürlichen Haltung daliegt, das Bild, das für alle Zeiten auf ihrer Netzhaut bleiben und ihre Seele bis in die finstersten Ecken der Nacht verfolgen wird. Sie schreit oder denkt, dass sie schreit, oder denkt, dass sie jemanden schreien hört, und lässt sich in den Gestank

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