Brautflug
unangenehmer Geschmack im Mund. Es war noch dunkel, der Saal wurde von den Lampen im Gang schwach erleuchtet. Zusammen sahen sie nach dem Kind. Marjorie strich die Decke glatt, zu müde, um etwas zu sagen. Als die Schwester aus dem Zimmer war, lief sie gähnend umher und reckte und streckte sich. Sie wollte nicht einschlafen. Sie kannte das Krankenhausleben und wusste, dass nicht viel Zeit blieb, bevor die Ruhe von Fiebermessen und Waschritualen durchbrochen werden würde. Um wach zu bleiben, nahm sie zum wiederholten Mal Esthers Skizzenbuch zur Hand, das einsam und verlassen im Wartezimmer gelegen hatte.
Die Leute auf der Vorderbank im Jeep, wehrlose, verletzliche Hälse. Profile, die sich einander zuneigten: Franks gebogene Nase, Adas sanfte Linie, ihre geschürzten Lippen, wenn sie ihn anlachte. Die zwei schwarzen Pünktchen in der Mitte des Sees. Doch der Rest des Blocks war ausschließlich dem Kind gewidmet. Esther hatte fast nur noch das Kind gezeichnet, hintereinander weg, Seite für Seite, immer wieder von neuem: das Kind vorne im Jeep, das Kind hoch oben im Baum, spielend auf dem Feld, beim Essen, lachend, das Gesicht in Nahaufnahme, Ganzkörperbilder, in wechselnden Posen und mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken. Der ganze Skizzenblock war voll mit Bobby, Bobby und nochmal Bobby, das Papier war von beiden Seiten bemalt. Als habe Esther diesen Ausflug nutzen wollen, um das Kind einzufangen und zu ergründen, seinen Knochenbau, in den Licht- und Schattenflächen, aus denen es auf dem Papier bestand. Sie hatte den Jungen mit besessenem Strich gezeichnet, als würde sie etwas suchen. Sie ist auf der Suche nach jemandem, der in ihm verborgen ist und der ihr Zeichen gibt durch die Sprenkel in seinen Augen und durch die Glut seiner Haut, durch die Poren, die sich mit Leben vollsaugen, lass mich leben, sagt das Kind auf dem Papier, bitte, lass mich leben.
Er war es, und er war es auch wieder nicht. Das Kind auf den Seiten zeigte unverkennbar Züge von Bobby, doch seine Kleider erkannte sie nicht, es waren fremde Kleider, und auch seine Haare waren anders, lockig, als ob Esther den Jungen anders in Erinnerung hatte, in dem Moment, als ihre Augen ihn losließen und sich auf das Papier richteten.
25
Sallie mochte die ganzen aufgeregten, girrenden Frauen nicht besonders. Er war zu klein, um zu erkennen, wie einzigartig das Modehaus war, in dem ihr Vater als Schneidermeister arbeitete. Sie war vier Jahre älter und freute sich das ganze Jahr über auf den Tag, an dem sie mitkommen durften. Sie packte sein ungeduldiges Händchen und versuchte, ihn wenigstens davon zu überzeugen, dass er brav mit ihr zusammen hinter dem Vater über die antiken Läufer im Parterre lief. Das Einzige, was Sal dort interessierte, war das Glitzern des riesengroßen Kronleuchters über ihren Köpfen. Sie selbst dagegen bestaunte die Accessoires, die in den Vitrinen ausgestellt lagen, die ledernen und seidenen Handschuhe, die Regenschirme, die hauchdünnen Strumpfhosen, die Hüte und die Abendtaschen. Lingerie aus Satin und Spitze in verträumten Farben. Sie studierte die Bewegungen der Verkäufer, die sich über den Tresen zu einer vornehmen Kundin beugten und Kaschmirschals durch ihre Hände gleiten ließen. Sie nahm den Geruch der Parfums auf und schnupperte den sanften Puderduft. Benebelt gab sie sich selbst feierliche Versprechen. Doch immer zog eine kleine Hand drängelnd weiter. Sal wollte so schnell wie möglich in den Keller.
Im Atelier machte sie die Leute regelrecht wahnsinnig. Es war kurz vor der Schau, und sie schneite täglich mit neuen Ideen und grundlegenden Veränderungen herein. Niemand hatte verstanden, warum sie ausgerechnet in dieser hektischen Zeit einen Ausflug nach Rotorua machen musste, und deshalb schien es, als müsste sie die Erinnerung an diesen einen
lousy
freien Samstag im wahrsten Sinne des Wortes abarbeiten. Mit einem Mal wünschte sie Blumenstickereien auf dem Brautkleid, weil sie mit einem Bild von weißseidenen Eisblumen im Kopf aufgewacht war, Eisblumen, die vom Polarwind schräg über das Kleid geblasen wurden. Überall Protest, als sie den Entwurf zeigte – tut uns leid, aber das schaffen wir nicht mehr, das ist unmöglich. Esther,
please
, sagte Rits. Darauf folgte ein Wortschwall über Einsatz und Leidenschaft, der damit endete, dass sie alle zusammen mit brennenden Augen bis spät in die Nacht hinein stickten, inklusive Esther. Wir sind ein kreatives Team, erklärte sie, wir können selbst
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