Brautflug
an dem Modebild, das ihnen vom konservativen England diktiert wurde. Doch Esther selbst las weiterhin die europäischen Modezeitschriften und wusste, dass in London eine brandneue Strömung entstanden war. Sie hörte von aufregenden Modeschöpfern wie Mary Quant, die Kleider mit trügerisch simplen Linien und einer ungekannten Bewegungsfreiheit machte. Diese Freiheit suchte sie, Freiheit, die sie übrigens auf andere Weise auch durch die Pille erfuhr. Und solange ihre Kunden noch in Ohnmacht fallen würden, wenn sie entdeckten, dass Esther unverheiratet die Pille nahm und dass Rits die Nächte nicht in seinem Mietszimmer verbrachte, solange würden sie sich auch nicht an neue, interessante Formen wagen. Ich muss in eine größere Stadt, weg aus dieser verschlafenen Gegend. Es sollte swingen. Lady Esther Boutique – bei dem Gedanken daran fing ihr Blut wie früher an, in doppeltem Tempo zu strömen.
Der Skandal erleichterte die Entscheidung. Eine ihrer Schneiderinnen kam abends unerwartet spät ins Atelier, genau in dem Moment, als MrCorbett, der anständige Ehemann einer ihrer vornehmsten Kundinnen, breitbeinig auf dem Schneidetisch saß und Esther – nur mit einem Meterband bekleidet – vornübergebeugt mit seinem Glied im Mund dastand, den Po zum Ankleidespiegel gereckt, auf den er seinen dösenden Blick gerichtet hielt. In
no time
hatte sich ihre Kundschaft halbiert.
Christchurch wurde rasch zu klein.
Sie entschied sich für Wellington, weil dort niemand wohnte, den sie kannte. Mit Rits flog sie ein paar Mal dorthin und fand ein geeignetes Gebäude im Zentrum. Die Gegend strahlte nicht ganz die radikale Designkultur aus, die sie sich erhofft hatte, doch darum würde sie sich von nun an persönlich kümmern. Sie planten den Umzug lange im Voraus, denn der Salon in Christchurch musste gut verkauft werden. Das war Rits’ Aufgabe, während Esther mit dem Entwerfen anfing. Sie beschloss, die Eröffnung von Lady Esther Boutique mit einer Modenschau einzuläuten, und erhöhte damit den Druck. Unsicher, als wäre es ihr erstes Mal, suchte sie auf der Straße nach Silhouetten und Formen, die einen Anknüpfungspunkt bieten könnten. Sie ließ ihre festen Stofffabrikanten antanzen und stellte eine Palette zusammen, als würde es um ein Gemälde gehen.
Danach konnte sie das Zeichnen nicht länger hinauszögern. Verhalten hing ihr Stift über leeren Bögen Papier. Wozu habe ich Lust, was will ich sehen? Russischer Einfluss, daran führte kein Weg vorbei. Modernität, klare Linien, leichter Stoff,
be poised, be there
. Ein starker Frauentyp auf dem Laufsteg, jung, geistreich, sexy.
Poloneck Sweaters in Bohemian Black
. Vielleicht mit den Beatles im Hintergrund. Herabgesetzte Taillen, elastischer Jersey,
easy to wear
. Die Abendkleider dürfen theatralisch sein, genau wie die Cocktailkleider, die Röcke enden kurz über dem Knie, und wir hören dazu einen
jazzy
Bossa Nova. Zum Schluss die Romantik, wir müssen pragmatisch denken, wie viel Modernität kann Neuseeland vertragen? Nachher bleibe ich noch auf den Sachen sitzen. Wir schließen mit einem Brautkleid, das den Zuschauern die Tränen in die Augen treibt.
Dann fing Esther an zu zeichnen, sie kannte die Prozedur, am Anfang muss man erst einmal in Gang kommen. Zeichnest du, was du beim letzten Mal bereits gezeichnet hast, wirst du missmutig, und dann werden alle um dich herum ebenfalls missmutig – was wissen die schon von der Angst, dass es dieses Mal nicht gelingen wird. Diese Angst kannst du mit niemandem teilen, denn dann würden sie das Vertrauen verlieren. Die anderen müssen denken, dass
du
immer weißt, wo es langgeht. Deshalb verwandelst du die Angst in Missmut, und währenddessen zeichnest du weiter, denn das ist dein ganzes Geheimnis: Dass du weitermachen musst, dass du nicht aufhören darfst. Und auf einmal, manchmal nach Tagen, manchmal erst nach Wochen, entsteht etwas auf dem Papier, und beim Anblick bestimmter Linienführungen wird dir ganz heiß vor Aufregung. Nachts dann, wenn du mit offenen Augen ins Dunkel starrst, erscheinen dort die Entwürfe hintereinander, als würden sie bereits fertig daliegen und darauf warten, dass du sie nur noch umsetzt. Licht an, auf die Toilette, Zigarette, zeichnen. Rits, der demonstrativ die Decke über den Kopf zieht.
Zeichnen. Glücklich sein.
Wochenlang ging das so, es musste die beste Kollektion aller Zeiten werden, sie hatte große Pläne in Wellington. Eine Modenschau dauert höchstens eine halbe Stunde,
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