Brautflug
Sechzigerjahren, die ihrer Meinung nach wieder unglaublich in ist – und sieht sich um. Was muss er gearbeitet haben. Irgendwo erklingt ein Motorengeräusch. Aus der Richtung der Villa kommt ein moderner, offener Geländewagen quer durchs Feld zum Parkplatz gefahren, auf hohen Rädern. Esther wartet ruhig ab. Hinterm Steuer sitzt ein junger Mann, der ihr irgendwie bekannt vorkommt. Er steuert den Wagen auf sie zu und schaltet den Motor ab. Höflich grüßt er sie,
good morning
. Er steigt aus, schüttelt ihr die Hand und stellt sich als Kris vor. »Kommen Sie zur Beerdigung?« Sie nickt. »Sweet«, sagt er. Das klingt wie: okay. Durch seine Augen hindurch sieht sie erneut ihr eigenes Alter, sieht sich selbst Lichtjahre entfernt irgendwo im Universum umhertreiben.
Wir sind alle in dem großen Haus, sagt er, ich wollte Sie abholen. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit einem Maori-Text in weißen Buchstaben aufgedruckt. Aus den kurzen Ärmeln kommen starke, braune Arme hervor. Um seinen Hals hängt ein Greystone an einem Lederschnürsenkel. Sein Gesicht ist oval, mit hübschen Gesichtszügen, einer olivfarbenen Haut und einem kurzen, dunklen Vollbart. Intelligente, braune Augen, die offen in die Welt blicken. Man kann sehen, dass er in Liebe und Geborgenheit aufgewachsen ist und dass er nicht weiß, dass das etwas sehr Besonderes ist. Sie könnte sich auf der Stelle in ihn verlieben, es ist immer wieder bedauerlich, dass in der Beziehung nichts mehr von ihr erwartet wird. Kris öffnet für sie die Autotür. Sie legt mit einer übertrieben eleganten Geste ihre Hand in die seine, wie ein Filmstar auf dem Weg zu einem Gala-Abend, um zu vermeiden, dass das Bild zu sehr an eine alte, kranke Frau erinnert, der von einem Pfleger ins Auto geholfen wird. Leider gelingt es ihr nicht, sich den Sicherheitsgurt anzulegen, sodass er sie hilfsbereit anschnallt. »Wir sind alle sehr traurig«, sagt er. Sie rauschen über den Parkplatz hinweg. Esther spürt die perfekte Federung dieses Wagens und denkt an den alten Jeep. Sie sieht um sich herum auf die endlos weiten Felder und die Berge dahinter. Einen kurzen Moment lang sieht sie Frank über eine Weide rennen und verzweifelt auf die Knie sinken. Wir waren uns ähnlich. Warum konnten wir uns nicht gegenseitig helfen? Sie schüttelt den Kopf, lieber nicht daran denken. Ihr fällt auf, dass Kris nicht zu der Villa fährt. Stattdessen lenkt er den Wagen auf das Firmengelände. Wir haben noch ein Auto ankommen sehen, erklärt er, es muss noch jemand dort sein.
9
Gesehen werden und keine Angst haben. Sechs Jahre nach dem Krieg, sie hatte gerade ihre Ausbildung an der Modeakademie abgeschlossen, traf Esther Leon wieder. In dem überfüllten Jazzclub auf dem Leidseplein – ein rauchiges, dunkles Loch – erkannten sie einander sofort wieder. He, hallo, wie geht es dir? Von ihren Familien war keiner aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt. Aber nun ja, das war nicht der richtige Ort dafür.
Verlust, Angst, Trauer und quälende Fragen, auf die es keine Antworten gab, das waren die Raubtiere, die all die Jahre lang in der Ecke ihres Käfigs auf der Lauer lagen und auf einen Moment der Unaufmerksamkeit warteten. Sie, in ein extravagantes Dompteursgewand gekleidet, hielt diese Kreaturen mit eiserner Willenskraft zurück. Auch jetzt machte sie dankbar Gebrauch von dem schnellen Jazz und der mondänen Atmosphäre und rief sich mit Leon ungefährliche Erinnerungen an die Anfangszeit bei der Familie Rep ins Gedächtnis, bei der sie drei Kriegsjahre lang auf dem Dachboden verbracht hatten. Er, ein ernsthafter, blasser Junge von zwölf Jahren, krank vor lauter Heimweh nach seiner Mutter, und sie, drei Jahre älter, eine verächtliche Pubertierende mit hämischen Augen, die ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Nähkasten widmete und sich weigerte, sich mit dem weinerlichen kleinen Bübchen zu befassen. Sei doch bitte etwas freundlicher zu ihm, sagte die dicke Frau Rep – die sie Tante Nel nennen mussten – kopfschüttelnd. Aber sie zischte dann geringschätzig zwischen den Zähnen, wie Backfische das tun. Erinnerst du dich?
»Du hast gezischt«, rief Leon laut, um die Musik zu übertönen, »machst du das immer noch?«
»Wenn du willst«, flirtete sie. »Wenn es dich danach verlangt.«
Er hatte sich zu einem nicht unattraktiven Jungen von zwanzig Jahren entwickelt, schlank, mit dickem, zurückgekämmtem, schwarzem Haar und Grübchen in den Wangen. Er arbeitete in der Buchhaltung bei Van Gend
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