Brautflug
wurde unangenehmer. Die Natur kann sich gegen dich wenden, und dann kann ein Schutz lebenswichtig werden. Sie zog noch eine Decke zu sich heran, doch es gelang ihr nicht, sie um sich zu legen. Die Straße war inzwischen zu einem unbefestigten Weg geworden, und der Truck hüpfte durch Mulden und Schlaglöcher. Die Kälte störte sie ohnehin kaum. Große Farne haben sie hier, fast wie Palmen. Der Truck schob sich weiter den Berg hinauf. Der Weg verengte sich und wurde zu einem schmalen Pfad. Es fing an zu regnen. Weit unten in der Schlucht sah sie den Fluss. Ja, dachte sie, natürlich kannst du sagen: Ich lass dich nicht fallen, aber wenn ich springe, fallen wir beide, und zwar sehr, sehr tief. Dann legte sie sich flach auf den Rücken und starrte in den Nebel. Ihre Füße spürte sie nicht mehr. Wie eine Puppe rutschte sie auf dem rauen Holz hin und her. Ich habe etwas verloren, dachte sie, aber ich weiß nicht, was. Ich bin eine Hülle für mein Kind, damit es gut wachsen kann. Ich lasse mich von A nach B fahren. Irgendwo, irgendwann war einmal die Rede von einem eigenen Willen, von Sehnsucht und einem Ziel, aber wo und wann war das? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Dazu war sie zu müde. Lieber dachte sie an gar nichts mehr.
Was die Zukunft auch bringt, die Hand des Herrn führt und leitet meinen Weg.
8
Bob parkt den Mietwagen unter dem Willkommensschild. Einen Moment später laufen sie im hellen Sonnenlicht über das Gelände, zwischen riesengroßen, silberfarbenen Silos hindurch, die das Licht schonungslos reflektieren. »Unfassbar«, sagt Marjorie. Sie erkennt kaum etwas von dem Weingut von früher wieder, nur die Reihen der Weinreben, durch die sie gefahren sind, sehen noch genauso aus, allerdings vertausendfacht, als hätte man sich eines schlauen Spiegeltricks bedient. »Erinnerst du dich noch, wie es war?« »Nein, kein bisschen.« Er wirft einen Blick auf die Armbanduhr. Gleich muss er zurück nach Wellington fahren, um seine Tochter, die aus Sydney herübergeflogen kommt, dort vom Flughafen abzuholen. »Ich frage mich gerade, wie sie hier wohl ›Traubenblut‹ aussprechen«, sagt Marjorie.
In den Feldern ertönt das trockene Geräusch eines Schusses.
Bird Shooting
, denkt Marjorie, und vor ihrem geistigen Auge erscheint ein offener Jeep, muskulöse Arme hinter dem Steuer, eine dunkelblonde Locke weht im Wind, und neben dem Fahrer sitzt ein kleiner Junge. Mit den Fäusten umklammert er stolz den Kolben eines viel zu großen Gewehrs, das aufrecht zwischen seinen Beinen steht. Ein lästiges Schuldgefühl, ein vertrauter Bauchschmerz. Nervös sieht sie sich um.
»Beeindruckend«, bemerkt Bob, als sie weiterspazieren. Entlang der riesengroßen Tanks sind hohe Laufbrücken gebaut, sodass man sie von oben öffnen kann. In der Nähe stehen einfache, große Schuppen. Dort drinnen sieht es nach Arbeit aus, dort stehen die großen Metallpressen und die Fässer zum Fermentieren. In einem anderen Schuppen sehen sie die kleinen, wohlbekannten Eichenholzfässer und unzählige Stapel mit Weinkisten. Neben den Schuppen parken lang gestreckte Lieferwagen und verschiedene Landbaumaschinen. Sie spazieren weiter, bis sie zu einem vornehmen Restaurant mit großer Terrasse gelangen. Gegenüber ist ein Laden, daneben ein Weinausschank. Etwas weiter stehen ein paar hübsche, flache Häuser am Feldrand, die wie Gästehäuser aussehen. Neben dem Weinausschank ist ein schönes, modernes Büro, dahinter ein längliches Gewächshaus und zu guter Letzt noch ein imposantes Backsteingebäude mit drei Etagen, auf dem über dem Eingang in großen Buchstaben DRUIVEBLOED VITICULTURE COLLEGE steht. Überall, wohin sie auch schauen, sehen sie Traubenblut-Vignetten. Alles ist geschmackvoll angelegt. Die Bebauung wird raffiniert durchbrochen von subtropisch, üppig bepflanzten Plätzen, entlang der Wege duften hohe Lavendelbüsche. Auf den kleinen Zwischenplätzen ertönen die angenehmen Plätschergeräusche von Wasserfontänen. Zwischen den Gebäuden hindurch schimmert in der Ferne, etwa dort, wo die Hügel anfangen, das weiße Landhaus aus der Broschüre.
Ein beeindruckender Anblick.
Doch keine Menschenseele ist zu sehen. Eine bedrückende Stille hängt über dem Gelände. Die Lastwagen stehen herrenlos und arbeitslos in der Sonne. Am ordentlich gedeckten Tisch im Restaurant sitzt niemand. Riesige Sonnenschirme aus Leinenstoff bieten den Holztischen auf der Terrasse Schutz für die Gäste, die nicht da sind. Auch hier befindet
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