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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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Schneiderkreide zeichnete sie die Einzelteile auf den Stoff, tief seufzend vor glücklicher Anspannung. Als der Moment des Schneidens nicht länger herauszuzögern war, nahm sie die große Stoffschere aus dem Atelier abends heimlich mit nach Hause und ließ sie konzentriert durch den Satinstoff gleiten, ein nahezu sakrales Erlebnis. Mit der alten Singer-Handnähmaschine, die sie von Tante Nel bekommen hatte, setzte sie in nächtlichen Stunden das Kleid zusammen. Ich kann es, dachte sie, über die winzig kleinen Knopflöcher gebeugt, die sie alle mit der Hand festonierte, ich kann es, ich habe es in mir, es wird phantastisch werden. Und hatte sie nicht wirklich eine mögliche Hochzeit im Kopf?
    Ein letztes Mal machte sie die Radtour nach Landsmeer und bat Tante Nel und Onkel Jan, sie nach Schiphol zu begleiten. Der baumlange Bauer und seine dicke Frau watschelten mit ihr mit, vollkommen beeindruckt von der offiziellen Abschiedszeremonie. Ich bin euch mein Leben lang zu Dank verpflichtet, sagte Esther heiser, auch wenn ich euch nicht schreiben werde. Nun aber los, nickten sie gutherzig, und grüß Leon. In dem Moment sah sie aus den Augenwinkeln heraus einen jungen Mann vorbeischlendern, einen, der sich überall wohlfühlt, weil die Welt in ihm selbst zu Hause ist, und antwortete: »Wenn ich ihn sehe.« Sie bereute ihren Kommentar sofort, als sie die erschrockenen alten Gesichter sah. »Er wird dich doch abholen?«, fragte Tante Nel besorgt. »Kleiner Witz«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, aber als sie mit wiegenden Hüften zum Flugzeug ging, spürte sie, wie das Ehepaar ihr kopfschüttelnd hinterherschaute, sie hatten ihre Witze nie wirklich verstanden, und ehrlich gesagt verstand sie sie selbst auch nicht immer.
     
    All die gackernden Mädchen in diesem Flugzeug. Sie hatte keine Lust auf das Brautgetue. In London blieb sie mit drei der mitreisenden Journalisten bis zur Sperrstunde in einem englischen Pub. Wie sie ihre Zukunft in dem neuen Land sah, wollten sie wissen. »Ich bin dazu bestimmt, Modeschöpferin zu werden«, antwortete sie hochmütig und mit viel Gefühl für Dramatik, »wo auch immer ich sein werde. Ich habe nichts dabei, außer mir selbst und meinem Talent.« Die Männer waren beeindruckt. Mit keinem Wort erwähnte sie, was sie zurückließ. Danach verirrten sie sich in den Straßen der Stadt, sie, die unnahbare Königin, umgeben von ihrem Gefolge, ein unvergesslicher Abend, sie boten ihr unermüdlich Zigaretten und Feuer an und gaben sich größte Mühe, sie zum Lachen zu bringen. Auf einer Bank am Rande eines großen Parks sangen sie Lieder von Cole Porter. Sie kamen so spät ins Hotel zurück, dass sie klingeln mussten. Mit ihrer Zimmergenossin machte Esther erst am nächsten Morgen Bekanntschaft, kurz vor dem Abflug, unten an der Flugzeugtreppe. Ada hieß sie, noch ein Kind, aber so schön, dass es einen ganz nervös machte. Der attraktive Mann von Welt, dessen Lächeln in einem das schmerzliche Verlangen darauf erweckte, das Alleinrecht zu besitzen, hieß Frank de Rooy. Mit diesem Lächeln auf einem Perserteppich, tja, da würde ich nicht nein sagen. Gewohnheitsmäßig schätzte sie seine Kleidung ein, die dünne Jacke und den Anzug: geschmackvoll, aber veraltet, teuer, aber verschlissen, gute Familie, aber arm wie wir alle. Sie hätte gern mit ihm geflirtet und setzte sich in der Kabine direkt hinter ihn, doch er hatte nur Augen für Ada. Die blonde Ada, mit einem sinnlichen Körper und einem bildhübschen Gesicht gesegnet, jedoch ohne die geringste Ahnung, was man daraus machen könnte. Zweifellos war sie das am schlechtesten gekleidete Mädchen im ganzen Flugzeug, in einem lebensmüden Baumwollstoff aus der Vorkriegszeit.
     
    Die Reise wurde schnell langweilig. Dass sie Ada das cremefarbene Kleid anprobieren ließ, tat sie zum einen, um sich die Langeweile zu vertreiben, und zum anderen, weil es sie erregte, die unbewusste Schönheit durch
ihre
Kreation an die Oberfläche zu bringen. Die Empfindung lag nicht in der Bedeutung des Kleides, sondern in dem Kleid selbst. Sie würde es wirklich liebend gern selbst tragen, doch noch lieber wollte sie es kreieren und sehen, ob sie recht gehabt hatte. Sehen, was der schräg genähte Faden in den Rockteilen für eine Hüftlinie erzeugte, was der gefaltete Organza für eine Büste formte. Sehen, was in den Augen des Mädchens geschah, wenn es sich selbst so sah. Ich kann es, dachte sie erneut triumphierend, ich habe es in mir.
    Die Risse im Satin

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