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Brautflug

Brautflug

Titel: Brautflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marieke Pol
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nach dem Sturm schienen nebensächlich.
    Außerdem hatte sie Mitleid mit dem lieben Kind. Sie sah deutlich, wie sich zwischen dem Mädchen und Frank etwas entfaltete, was ganz offensichtlich nicht beabsichtigt war. Ihre Nachbarin Marjorie – korrektes, unbeholfenes Kriegskostüm – sah es ebenfalls. Esther ließ sich nicht zu Getuschel und Getratsche hinreißen. Daher schwieg sie lange, starrte aus dem Fenster, rauchte und hatte entrückte Visionen von einem Laufsteg, auf dem Mannequins in ihren Kleidern in schimmernden Farben liefen. Ihre Eltern und Sallie saßen im Publikum. Wenn sie nicht schwieg oder träumte, spielte sie mit den Journalisten Karten. Die letzte Nacht kam Frank dazu, der sie mit selbstironischen Witzen zum Lachen brachte, Witze von jemandem, der gerade einen Korb erhalten hatte. Sie verstanden sich gut.
     
    Ein Neuanfang. Mit schmerzender Kehle vom vielen Rauchen stand sie unten an der Flugzeugtreppe und blinzelte in die Fotolampen und das graue Licht. Alles lachte ihr zu. Das war es also, Neuseeland, kein Sumpf, sondern einfach ein frisches, junges Land, tatatataa. Der raue Wind und die dunklen Wolken störten sie nicht, in ihren Zukunftsträumen spielte blauer Himmel keine essenzielle Rolle. Das Kleinkarierte der verfrorenen Gruppe Tänzer und das barackenähnliche Flughafengebäude waren ihr egal. Sie fühlte festen Boden unter ihren Füßen. Herzlich verabschiedete sie sich von den Jungs von der Zeitung, schüttelte Hände der Niederländer hinter der Absperrung, ließ sich bewundern, schaut nur, da bin ich.
    Marjorie winkte mit ihrem
Alien Certificate
. »Als kämen wir vom Mond!« Esther steckte es, ohne etwas zu sagen, tief in ihre Tasche. Noch einen kurzen Moment. Sie nahm sich vor, sich so schnell wie möglich einbürgern zu lassen, bitte schön, hier haben Sie meinen alten Pass, ich tausche ihn gern gegen ein neues Modell ein. Auch die Sprache gebe ich gern ab, hoppla. Sie wollte englisch sprechen, englisch denken, englisch träumen und englisch atmen. Angst vor Heimweh hatte sie nicht. Scheußlicher Verlust, eines der beiden Raubtiere, hielt sie bereits seit zehn Jahren in Schach. Die Frage war noch offen, ob es mit ihr hatte mitreisen dürfen. Selbst von dem Treffen mit Leon war sie nicht enttäuscht, er sah stärker und gesünder aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Dass er für seinen Teil sehr wohl über ihre Erscheinung erschrak, enttäuschte sie ebenso wenig.
    Die langweiligen, stillen Straßen mit den Holzbungalows und den geharkten Rasenflächen, die sie vom Bus aus sehen konnte, hatten für sie etwas Ermutigendes. Sie wollte sich nicht beeindrucken lassen, sie selbst wollte Eindruck machen. Ja, schlaft nur, ihr lahmen Bürger, dachte sie, ich werde euch ordentlich wachrütteln. Diese Stadt wird in ihren Grundmauern erschüttern, wenn meine Entwürfe das Stadtbild übernehmen. Trotz ihres Kopfschmerzes wollte sie am liebsten auf der Stelle damit beginnen.
    Im Zentrum von Christchurch verschwanden die Rasenflächen, und die Häuser waren aus Stein, die Häuserblöcke höher. Was blieb, war die Stille. »Lebendig«, bemerkte sie spöttisch, als sie beim Verlassen des Busses den ausgestorbenen Cathedral Square besichtigten. Leon, der nicht wissen konnte, dass es ihr gefiel, fühlte sich dazu verpflichtet, die Stadt, in der er nun schon seit fast zwei Jahren wohnte, zu verteidigen. »Es ist Sonntagmorgen, halb acht«, sagte er, »normalerweise ist es eine schöne Stadt, freundliche Menschen. Hier gibt es keinen Antisemitismus.«
    »Nein«, bemerkte sie etwas boshaft, »hier gibt es überhaupt nichts.«
    Marjories Verlobter stimmte ihr zu.
    »Weißt du, was sie sagen? ›Christchurch ist halb so groß wie der Friedhof von New York, und doppelt so tot!‹« Er selbst musste herzlich darüber lachen.
    Feiner Junge, dachte sie. Grauer Flanell. Grundehrlich. Nichts für mich.
    Und dann, auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Platzes, überkam sie mit einem Mal ein Glücksgefühl, das sie nicht deuten konnte. Sie musste beinahe weinen, weil es so lange her war, dass sie sich so gefühlt hatte. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte, und sie stand überglücklich auf diesem willkürlichen Flecken auf dem Erdball, der durch Zufall ihr Platz geworden war.
    Unter den übrigen Liftmaster-Passagieren war die Enttäuschung fast greifbar. Ein bleiches, müdes, sichtlich abgekühltes und zerknittertes Häufchen Elend waren sie. Unbehaglich – so plötzlich ohne Programm und

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