Brautflug
eine kriminelle Veranlagung, dachte sie mit vor Stolz glühenden Wangen. Im Krankensaal nahm sie den Dank gerne entgegen. Brot mit Butter, das würden sie hier sonst niemals bekommen.
Es wurde Sommer, und ihre Diebstähle blieben noch immer unentdeckt. An einem Mittag saß sie mit Hans draußen auf dem Eisenbett, sie hatte entzückt dabei zugesehen, wie er die Butterbrote in sich hineinstopfte. Die Serviette steckte sie in die Tasche ihrer Schürze.
»Du wirst noch geschnappt«, sagte er.
»Macht mir doch nichts … diese geizigen Nonnen.«
»Kleiner Gauner.«
Er sah sie so zärtlich an, dass sie sich nicht zurückhalten konnte. »Magst du den kleinen Gauner?«, fragte sie mit einer etwas zu hohen Stimme. Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ja«, sagte er laut, fast böse, es war ihm so herausgerutscht. Und dann küssten sie sich lange. Sie waren sich der Ansteckungsgefahr bewusst, es fügte diesem herrlichen, überwältigenden Kuss etwas Heldenhaftes hinzu. Sie ließen ihn so lange wie möglich andauern, unsicher, ob es nicht der einzige in ihrem Leben sein würde. Erst als Hans die Luft ausging, hörten sie auf. Von dem Moment an war die Liebe nicht mehr zu verleugnen. Die Bedenken jedoch ebenso wenig. Sie sah, wie er immer finsterer wurde, der fröhliche Kasper zerbröselte vor ihren Augen. »Ich bin ein mittelloser Tuberkulosepatient«, sagte er kopfschüttelnd, »ich habe dir nichts zu bieten.«
»Liebe«, sagte sie.
Sie meinte es genau so, und das erstaunte sie. Sie hatte sich immer einen einflussreichen, wohlhabenden Ehemann vorgestellt. Schön, das war es dann also, was Liebe mit einem tat. Edelmut durchströmte sie, erfüllte sie von Kopf bis Fuß, und sie wollte Hans erneut küssen. Doch er sagte, dass sie einander vergessen müssten, es gab keine Garantie, dass die Tbc-Bazillen sich ruhig verhalten würden. »Sieh dir das an«, sagte er und klopfte auf sein Brustbein wie auf eine hölzerne Tür, »nichts als Haut und Knochen … dazu noch pleite … eine unsichere Zukunft.« Sie wusste, dass er recht hatte, aber auch, dass sie zu ihm gehörte. »Das ist doch, wonach jedes Mädchen sucht«, versuchte sie einen verzweifelten Witz. Dann küssten sie sich erneut, es gab kein Zurück mehr. Während des zweiten Kusses dachte sie voller Schrecken an ihren Vater.
Schwester Kröte kroch täglich auf ihrer Schleimspur durch die Gänge, immer in der Hoffnung, jemanden bei einer unchristlichen Tat zu erwischen. Mit Margot machte sie einen fetten Fang. Die nämlich kam geradewegs aus der Hauptküche, in der sie nichts zu suchen hatte, in den Händen Servietten mit dick belegten Broten. Schwitzend und sich die Lippen leckend, meldete die Nonne den Vorfall der Mutter Oberin. In dem dunkelbraunen Zimmer mit den bleiverglasten Scheiben, in dem einem vom Bohnerwachsgeruch die Augen tränten, wurde Margot von Schwester Benedictine standrechtlich verurteilt. Zwei Vergehen hatte sie begangen: Umgang mit Jungen aus der Baracke und Diebstahl von Essen, das der ersten Klasse gehörte. So viel Leichtfertigkeit konnten sie hier nicht dulden. Sie wurde auf der Stelle entlassen und aufgefordert, noch heute ihr Zimmer zu räumen. Daraufhin beugte Mutter Oberin sich wieder über ihre Verwaltungsunterlagen. Die Wut gab Margots Stimme einen schrillen, unverschämten Klang, über den sie selbst erschrak.
»Ich werde ja wohl noch ein Zeugnis bekommen?«
Die Nonne hinter dem schweren Tisch zog die Augenbrauen hoch und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen, die so viel Sünde gesehen hatten, dass sie die Farbe von Abwaschwasser angenommen hatten, minutenlang an.
»Erstaunlich«, sagte sie schließlich leise.
Es war auch nicht die Rede davon, dass sie noch einmal zu der Baracke durfte. »Ich wünsche dem jungen Mann ein ordentlicheres Mädchen«, sagte Schwester Benedictine zum Abschied.
Margot ließ ihn über einen befreundeten Lehrpfleger warnen. Benommen vor Hass über alles, was sich Nonne nannte, verließ sie das Krankenhaus und nahm den Zug nach Zaandam. Ohne etwas zu sehen, starrte sie auf das Weideland. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie alle Praktika erfolgreich abgeschlossen. Ohne Zeugnis konnte sie wieder von vorn anfangen. Aber sie würde nirgendwo angenommen werden.
In den schillerndsten Farben schilderte sie zu Hause das Unrecht. Von Hans erzählte sie wohlweislich nichts. Ihr Vater reagierte genau, wie sie es erwartet hatte, einfach großartig. Er geriet regelrecht in Rage, als es um die
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