Brautflug
verabreden. Um der Leiterin der Baracken zu entgehen – einer übergewichtigen, schlecht gelaunten Nonne, die Schwester Cherubine hieß, von den Patienten jedoch Schwester Kröte genannt wurde –, kletterte Hans durchs Fenster nach draußen, während die Jungen Schmiere standen. Da saßen die beiden dann, nebeneinander auf dem Eisenbett, und wärmten sich an der vorsichtigen Sonne und aneinander. Sie führten lange Gespräche, die immer ernsthafter und persönlicher wurden. Er war vierundzwanzig, kam aus einer großen Familie. Arme Leute; sein Vater war Hafenarbeiter in Nord-Amsterdam, sein ältester Bruder war vom Pastor zum Predigerseminar überredet worden. Hans fand nach der Hauptschule eine Stelle in einem Versicherungsbüro, seinen Lohn musste er zu Hause abliefern. Gut möglich, dass es manchen Leuten gefiel, das Büroleben, doch er, der als Kind durch die Häfen der Stadt gestrichen war, fand es grauenhaft. Er konnte sich nicht an das fehlende Tageslicht gewöhnen und an die Ärmelschoner an den Oberhemden. Die Stunden krochen dahin, als wäre sein Leben schon frühzeitig zum Stillstand gekommen. Gegen Ende des Krieges musste er bei einem tauben Großonkel in Groningen auf dem Land untertauchen, damit die Moffen ihn nicht zum Arbeiten nach Deutschland schicken konnten. Das machte es nicht viel besser. Als er nach der Befreiung zum Wehrdienst musste, war er daher begeistert – endlich kam wieder Bewegung in sein Leben. Und die Luftwaffe war genau das, wovon er geträumt hatte. Nach einem freien Wochenende, auf dem Weg zurück in die Kaserne, stand ihm in der Straßenbahn ein hustender Mann gegenüber. Kurz darauf bekam er Fieber. Die Diagnose war ein harter Schlag, ein Urteil mit unbekanntem Ausgang. Im günstigsten Fall jahrelanger Stillstand. Wieder Stillstand.
Das war so eine schreiende Ungerechtigkeit, solch eine Gemeinheit, dass er sich selbst versprach, keine Minute seines Lebens zu vergeuden, auch wenn das Leben vielleicht nicht mehr so lang sein und er bis zu seinem Tod in einem Krankenhausbett verbringen müsste. Das Einzige, was er tun konnte, war lesen und studieren. Nun ja, und genau das tat er dann auch. »Und weißt du«, sagte er, »es gefällt mir.« Trotz seines Pechs war er voller Selbstvertrauen. So war er nun mal.
Margot erzählte von zu Hause. Sie prahlte mit ihrem Vater. Hans hörte geduldig zu, bei ihm fühlte sie sich vollkommen sicher. Denn hinter den albernen Witzen versteckte sich ein sanftes, zuversichtliches Gemüt. Deshalb traute sie sich auch, ihm von den weniger schönen Dingen zu erzählen, den Wutanfällen und Spannungen, und ihr wurde durch seine Reaktionen bewusst, wie entsetzlich es oft gewesen war. Sie beeilte sich jedoch stets, ihren Vater sogleich wieder zu verteidigen, ohne ihre eigenen Gefühle wirklich zu verstehen. Hans verstand sie ebenso wenig, doch er ließ ihren Redeschwall über sich ergehen und fing sie auf.
Sie kamen einander immer näher, es entstand ein tiefes Gefühl der Intimität. Dass ich nicht schon viel früher gesehen habe, wie gut er aussieht, dachte sie. Keiner der beiden wagte, es Liebe zu nennen. Keiner wagte es, den anderen zu küssen, auch wenn das Verlangen danach fast nicht mehr zu zügeln war. Ohne das Alibi des Maßnehmens hatten seine Hände an ihrer Taille nichts zu suchen und blieben daher nutzlos auf seinen Oberschenkeln liegen. Sie starrte sie an. Es waren große Hände, die aussahen, als müssten sie stark sein, doch sie waren abgemagert und geschwächt, Hände, die sie von Mal zu Mal mehr liebte, bis es fast nicht mehr auszuhalten war. Inzwischen produzierten ihre Münder weiterhin Worte, weil sie nichts anderes tun durften. Das Wort Tuberkulose hing unausgesprochen über ihnen.
Wie in jedem Krankenhaus bekamen auch im Onze Lieve Vrouwe die Patienten der ersten Klasse mehr und besseres Essen als die weniger begünstigten Kranken. Aber auch reiche Patienten hatten oft keinen Appetit, und dann blieb gutes Essen übrig. Die Nonnen erlaubten nicht, dass es dann in die armen Abteilungen gebracht wurde. Margot fand das ungerecht. »Ihre« Jungs – junge Kerle, fast gesund – klagten ständig über Hunger. »Wenn ich etwas nicht ertragen kann«, erklärte sie Hans entrüstet, mit geröteten Wangen, »dann ist das die Ungerechtigkeit!« Er lächelte. Sie fing an, zurückgegangene Butterbrote aus der Hauptküche des Krankenhauses zu entwenden, etwas, was ihr zu ihrem eigenen Erstaunen größtes Vergnügen bereitete. Ich habe
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