Breed: Roman (German Edition)
er die Taste an seinem neuen Kühlschrank drücken, damit Eiswürfel in sein Glas klappern, nur ist das Glas jetzt seine Magengrube. Wenn man ihn wegen Geschwindigkeitsüberschreitung anhält, kann er seinen Job vergessen.
Gerade als er den Fuß auf das lange Bremspedal setzt, sieht er aus dem Augenwinkel heraus etwas. Er sieht es, ohne es wirklich zu erkennen, es geschieht zu plötzlich, zu schnell. Ein reicher, einst einigermaßen prominenter New Yorker Anwalt, der allmählich aus dem öffentlichen Leben verschwunden ist, rennt über die Fifth Avenue, in einem Zickzackkurs, der aussieht wie der Chart einer volatilen Aktie oder der leuchtende Pfad eines Blitzes, der über den dunklen Himmel zuckt.
Gomez tritt mit aller Kraft, die er besitzt, auf die Bremse. Die abgenutzten Bremsbacken pressen sich erbärmlich kreischend an die Trommel. Irgendwie behält die auf einem Fuß stehende Frau das Gleichgewicht, aber anderen Fahrgästen ergeht es nicht so gut; einige rutschen von ihren Sitzen, als der Bus ins Schlingern gerät. Das Heck bricht nach Osten aus, das vordere Ende schwenkt nach Westen. Etwas – wahrscheinlich ein Taxi, zu dieser Tageszeit ist jedes zweite Auto auf der Fifth Avenue eines – prallt von hinten gegen ihn, allerdings ohne große Wucht. Das ist Glück im Unglück. Aber der Wahnsinnige, der über die Straße gerannt ist, der hat überhaupt kein Glück. Seinem Aussehen nach ist er etwa fünfzig, aber Mann, ist der gut in Form, er rennt wie ein Olympiasieger. Dennoch hat er nicht die geringste Chance. Wie ein Hund, wie ein verrückter Hund, der zu neunzig Prozent aus Instinkt besteht und nichts dagegen tun kann, wenn seine Beine losrennen, ist dieser Kerl einfach auf die Straße gerannt, und obwohl sich Mariano Gomez mächtig anstrengt, kann er ihm nicht ausweichen. Der Mann wird von dem Bus erfasst. Erst prallt sein Gesicht, Millisekunden später dann sein Oberkörper gegen die Windschutzscheibe. Als der Bus zum Stehen kommt, klebt der Mann immer noch dort. Aus seinem Mund und seiner Nase rinnt Blut. Seine Augen sind weit offen, aber tot wie Steine. Langsam, ganz langsam rutscht sein lebloser Körper an der Windschutzscheibe herunter, fällt nach hinten und kommt auf der Straße auf. Blind starren die Augen auf den betongrauen Himmel, ein seltsamer Punkt aus Frieden und Ruhe in einer Welt aus Sirenen, Hupen und den panischen Schreien der Passanten.
Xavier öffnet die Augen gerade so weit, um etwas sehen zu können, als würde er versuchen, vor einem Beobachter geheim zu halten, dass er das Bewusstsein wiedererlangt hat. Sein Gehirn hat noch nicht wahrgenommen, dass er nicht mehr gefangen gehalten wird. An der Decke sieht er Streifen aus Licht und erkennt, dass er nicht mehr in seinem Käfig hockt, was sein Herz rasen lässt. Er schließt die Augen und wartet, bis es sich beruhigt. Etwas Schweres bedeckt ihn, und als er die Augen wieder einen winzigen Spaltbreit öffnet, sieht er durch das Gitter seiner Wimpern, dass seine Brust, ja sein gesamter Rumpf mit etwas Weißem bedeckt ist. Verstohlen berührt er, was ihn da bedeckt – es ist kühl und weich. Ein Laken? Viele Laken?
Geräusche. Das Murmeln entfernter Stimmen. Das wacklige Quietschen von … was? Von Rädern? Wird da etwas weggekarrt? Teile von ihm? Er spannt die Muskeln seiner Beine an. Nein: Die sind noch da.
Presente.
Ein ständiges Gurgeln. Als hätte jemand ein empfindliches Mikrofon auf die Oberfläche eines Topfs mit kochendem Reis gerichtet. Er tastet mit seiner Zunge im Mund herum. Der fühlt sich riesig an, während die Zunge sich so klein anfühlt wie eine Maus in einer Höhle. Das ist so merkwürdig, dass es ihn aufrüttelt; er öffnet die Augen ein wenig weiter und versucht, sich aufzusetzen. Seine Arme zu verwenden, um sich hochzudrücken. Nur hat er keine Arme. Er hat … Arm. Er blickt über seine linke Schulter und sieht die Schulter selbst, einen Klumpen aus Bandagen und dann … eine grässliche, vernichtende Abwesenheit.
Die macht ihm allerdings nicht so sehr zu schaffen, wie er es erwartet hätte. Er weiß, er hat Glück, noch am Leben zu sein. Er ist in einem Krankenhaus. Selbst in seinen wildesten Phantasien hätte er sich nicht vorstellen können, durch den Anblick eines Krankenhauszimmers von einer derartigen Erleichterung erfüllt zu werden. Diese Erleichterung kommt in Wellen, eine nach der anderen.
Schließlich wagt Xavier es, ganz die Augen zu öffnen. Wie ein Schauer aus flammenden Pfeilen durchschießt
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