Breed: Roman (German Edition)
den Wolken wie eine Nadel im Heuhaufen der Ewigkeit. Michaels einzige Hoffnung ist, dass irgendjemand einschreiten wird.
»Komm nicht näher!«, ruft er Adam zu. »Mach, dass du wegkommst!«
»Sprechen Sie nicht mit meinem Sohn«, knurrt Twisden. »Der ist mein. Mein. Mein mein mein mein.«
Wieder und wieder, lauter und lauter wiederholt Twisden dieses Wort –
mein, mein
–, bis es zu einer Litanei wird, einer Art Selbsthypnose, einem Schlachtruf.
O Gott
, denkt Michael.
Mein Leben!
Bevor er über die heranbrausende Dunkelheit nachdenken kann, die ihn verschlingen will, wirft Twisden ihn mit erstaunlicher Kraft in die Luft. Einen Moment denkt Michael, er werde rasch wieder hinunterfallen, und sein erster Instinkt ist es, die Hände vors Gesicht zu schlagen, um seine Zähne zu schützen und den Aufprall irgendwie zu dämpfen. Er hofft, auf dem Rasen aufzukommen statt auf dem Betonpflaster oder einer der Bänke.
Seltsamerweise fällt er jedoch nicht, noch nicht. Mit ausgestreckten Armen und Beinen steigt er in die Höhe. Als er sich ein wenig dreht, sieht er die Zuschauer: ein paar Skateboarder und eine Gruppe asiatischer Touristen, deren Fotoapparate über ihren Burberrymänteln baumeln. Ein flüchtiger Gedanke: Ist das wirklich das Letzte, was ich jemals sehen werde?
Er erreicht den Scheitelpunkt seines Bogens und spürt einen Moment der Ruhe, während die Kraft der widerwärtigen, gewaltsamen Energie, die ihn hochgeschleudert hat, sich der allmächtigen Schwerkraft ergibt und Michaels unvermeidlicher Fall beginnt. Instinktiv streckt er die Hände aus und greift verzweifelt in die Luft wie ein Trapezkünstler, der einen plötzlich verschwundenen Ring fassen will.
Dennoch dauert sein Sturz nur einen Augenblick, da er verhängnisvollerweise von König Jagiellos Schwertern unterbrochen wird. Die Bronzespitze der südwärts zeigenden Klinge durchsticht Michaels rechten Oberschenkel, während die Spitze des anderen Schwerts sich zwischen seine Schulterblätter bohrt. Durch sein eigenes Gewicht sinkt er langsam, Zentimeter um Zentimeter, tiefer auf die Schwerter. Er spürt den Druck, das brutale Eindringen des Metalls, aber merkwürdigerweise empfindet er nur leichte Schmerzen – der Angriff auf seinen Körper ist so heftig, dass er zuerst nicht richtig verarbeitet werden kann. Michaels überwältigte Sinne können nicht wahrnehmen, was mit ihm geschehen ist. Schmerz hat die Funktion, uns zu warnen, dass der Körper in Gefahr ist, doch Michael nützen Warnungen jetzt nicht mehr.
Michael dreht den Kopf, um einen letzten Blick auf die Welt zu werfen. Als seine Augen sich trüben – es ist, als würden sie sich mit Milch füllen –, sieht er Adam, dessen Mund mit den rosigen Lippen vor Qual weit offen steht. Zumindest meint er, es sei Adam. Alles scheint so weit weg zu sein. Michael spürt, wie die Bronzeklingen sich immer tiefer in ihn hineinbohren. Er fragt sich, ob er irgendetwas tun kann, um sein Leben zu retten, doch diese Möglichkeit kommt ihm entfernt und unwahrscheinlich vor – und viel zu mühevoll. Sein Gehirn befindet sich schon halb in der Dunkelheit, aber mit dem, was noch davon vorhanden ist, denkt er, wie seltsam es ist, an diesem Tag zu sterben und es einfach geschehen zu lassen. Er hätte gedacht, es würde anders sein, hätte gedacht, er würde sich heftiger wehren, statt in seinen eigenen Tod zu sinken wie nach einem langen, erschöpfenden Tag langsam, langsam, langsam in den Schlaf zu gleiten.
Die Schwerkraft zieht ihn einen weiteren Millimeter auf Jagiellos Schwerter hinab, bis die Spitze der nach Norden weisenden Klinge sein Herz berührt. Er stößt einen Schrei aus, als hätte man ihm einen Elektroschock verpasst. Er hört, wie jemand seinen Namen ruft.
Wer ist das? Wer ist das? Xavier?
Etwas ist neben seinem Gesicht. Ein Geist. Ein Vogel. Ein Engel. Nein … etwas anderes. Jemand.
Adam, dessen Gesicht von Tränen überströmt ist. Ach! Das Kind! Das arme Kind! Michael streckt die Hand aus, um sanft das Haar des Jungen zu berühren in diesem Moment reiner Einbildung, diesem Riss in der Kuppel, diesem einen, einzigartigen Spalt zwischen den beiden Zuständen, jenem so vergänglichen und dem, der ewig ist. Beim letzten Atemzug wird etwas offenbart, und was Michael gezeigt wird, ist nicht das Geheimnis der Ewigkeit, der Sinn des Lebens oder der Sinn von irgendetwas anderem, sondern nur, dass er ein außerordentlich netter Mensch gewesen ist, was nach sehr wenig klingen mag, was in
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