Breed: Roman (German Edition)
ihn der Schmerz, ausgehend von dem Teil seines Schädels, den Alex an den Laternenmast gerammt hat. Dieses Gefühl durchdringt ihn mit solcher Wucht, dass er aufstöhnt.
»Xavier?« Jemand hat seinen Namen gerufen, eine vertraute Stimme. Jemand … Ungefährliches. Jemand Gutes.
Er sieht, dass er mit einer Maschine verbunden ist. Unter den Laken verschwinden Infusionsschläuche, die in ihm stecken.
»Xavier. Xavier.«
Seine Schwester ist da. Rosalie. Rosalie. Sie scheint vor ihm zu schweben wie ein Gesicht, das sich in einer riesigen Seifenblase spiegelt. Bei ihrem Anblick würde er am liebsten weinen.
»Beweg dich nicht, Liebes«, sagt sie. »Alles wird gut. Du bist am Leben, du bist verletzt, die haben dir übel mitgespielt, aber es ist okay, und du wirst es schaffen, Liebes. Du wirst wieder gesund.«
Er muss einen Moment nachdenken. Spricht sie Englisch oder Spanisch?
»Wo ist mein Arm?«
»Das wissen sie noch nicht.«
»Wie lange bin ich schon hier?« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. Er hat sie ruiniert, als er so viele Stunden geschrien hat.
»Schhh, ganz ruhig, Xavier. Du bist erst eine kleine Weile hier. Ganz ruhig.«
Er will zu ihr sagen:
Hör auf, mich zu beschwichtigen, und sag mir einfach, was zum Henker los ist
, aber das sind viel zu viele Worte.
Wo bin ich gewesen? Was haben sie mit mir gemacht?
Er versucht, dies alles mit einem Blick auszudrücken – Rosalie kennt ihn so gut, sie müsste in der Lage sein, in seinen Augen zu lesen, aber sie ist von ihrem Stuhl aufgestanden und geht auf die quietschenden Räder, die murmelnden Stimmen und das
Dingdingding
irgendeiner Maschine zu, die sich anhört, als hätte jemand ein Stethoskop auf die Brust eines Roboters gesetzt.
»Schwester? Kann jemand kommen?«, ruft Rosalie. »Mein Bruder ist aufgewacht!«
Xavier hört Musik und wendet unter Schmerzen seinen Kopf in diese Richtung. Nun sieht er, dass das Zimmer, in dem er sich befindet, eigentlich gar kein Zimmer ist, sondern ein Stück Krankenhausfläche, wo man ein wenig Privatsphäre geschaffen hat, indem man auf einer Seite allerhand Geräte und Regale mit medizinischem Material platziert und auf der anderen einen gefältelten weißen Vorhang aufgehängt hat.
Der Vorhang ist nur teilweise zugezogen, und durch die Lücke sieht Xavier die nackten, geschwollenen, leicht blauen Füße von jemandem, der im nächsten Bett liegt und offenbar auf einen mit einem langen, L-förmigen Träger an der Decke befestigten Fernseher schaut.
Diesen Fernseher hat Xavier jetzt deutlich im Blick. Eine Nachrichtenmoderatorin, eine Asiatin, deren dunkles Haar den Kopf wie eine Schwimmkappe umschließt, blickt auf ihren Text und runzelt die Stirn. Dann sieht sie in die Kamera, schluckt und holt tief Luft. »Die Polizei sucht weiterhin nach Gründen für die schockierenden Todesfälle, die sich heute Nachmittag an der Upper East Side von Manhattan ereignet haben. Für uns vor Ort im Central Park ist Carter Davis.«
Das Gesicht der Moderatorin wird durch das eines Lokalreporters ersetzt, eines jungen Mannes von fragwürdigem Aussehen, der einen langen Schal, eine Baskenmütze und einen rostroten Zweitagesbart trägt. »Hallo, Becky. Tja, die Geschehnisse dieses Nachmittags haben allerhand Staub aufgewirbelt. Inzwischen wurden die beiden Toten eindeutig identifiziert. Offenbar handelt es sich um einen Mord mit anschließendem Selbstmord.«
Das Bild schaltet nun auf eine Nahaufnahme der blutbefleckten Spitzen von König Jagiellos Schwertern um. Städtische Arbeiter haben ein Gerüst errichtet, das den größten Teil der Statue verhüllt, doch obwohl die Leiche fort ist und die anfängliche Aufregung sich ein wenig gelegt hat, stehen immer noch zwei bis drei Dutzend Menschen herum. Sie werden von ihrer Neugier und irgendeinem dunkleren Impuls zum Tatort des Mordes gezogen, so wie sich die Leute früher an einem Ort versammelt haben, an dem jemand eine Vision hatte oder wo ein Wunder geschehen war.
»Der New Yorker Lehrer Michael Medoff …«, sagt der Reporter, und alles, was danach kommt, entgeht Xavier, weil jetzt ein neues Bild auf dem von der Decke hängenden Bildschirm aufgetaucht ist.
Das ist Michaels Führerschein
, ist Xaviers erster Gedanke; seinen zweiten kann man eigentlich überhaupt nicht als Gedanken bezeichnen. Er beginnt, sich die Schläuche aus dem Leib zu reißen und die Laken wegzustrampeln. Nur eines weiß er jetzt noch, und zwar, dass er zu diesem Fernseher und Michaels Bild
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