Breed: Roman (German Edition)
Wirklichkeit aber überwältigend ist – wie der Klang eines Chors, der urplötzlich einen stillen und leeren Raum erfüllt.
Noch nie haben Adam und Alice ihren Vater in einem Zustand der Furcht gesehen, doch nun ist er verstört und aufgelöst. Vornübergebeugt steht er da, die Hände auf den Knien und mit gesenktem Kopf, keuchend und mühsam nach Atem ringend. Aus seinem offenen Mund hängen Speichelfäden, bis er sie endlich mit dem Handrücken abwischt. Dann richtet er sich wieder auf und betrachtet mit angstvollem Blick die Szene.
Leslie ist da; sie hält ihr Mobiltelefon in der Hand, blickt darauf, zeigt es Alex, als könnte die Lösung für alle Probleme irgendwie in den Schaltkreisen des Geräts gefunden werden. Sie weint unverhohlen. Die Tränen strömen nur so aus ihr heraus.
»Was hast du getan?«, heult Alice.
»Willst du ihn da oben lassen?«, schreit Adam.
»Du hast ihn raufgeworfen!«
»Er stirbt. Hol ihn runter, er stirbt, hol ihn runter!«
Das Jaulen einer Sirene kündigt an, dass jemand die Polizei gerufen hat. Der erste Streifenwagen, der eintrifft, muss ganz in der Nähe gewesen sein, und da kommt auch schon der zweite, mit jaulender Sirene und blinkenden Scheinwerfern, was ihm einen panischen Ausdruck verleiht, als wollte er vor einem Kriminellen flüchten, statt ihn zu fassen.
Alex ist plötzlich ganz ruhig. Weitere Sirenen sind zu hören. Ein Rettungswagen, ein Feuerwehrauto, noch mehr Polizei. Die Luft erzittert von dem Lärm, den sie verursachen. Das Krächzen unzähliger Krähen könnte nicht durchdringender sein. Als die Cops aus ihren Wagen steigen – zwei mit bereits gezogener Pistole –, versammeln sich Passanten, darunter ein Paar, das gesehen hat, wie Michael von Alex auf die Schwerter des Königs geworfen wurde, und das nun trotz seines Entsetzens auf Alex zeigt und den Polizisten zuruft: »Der ist es! Der hat den Mann getötet!«
Leslie zieht ihre Kinder zu sich heran, und die ergeben sich der mütterlichen Berührung. Woanders können sie jetzt nicht mehr hin.
Die Feuerwehrleute stellen neben der Statue des polnischen Königs, dessen Krone und Haar mit Blut besprenkelt sind, eine Leiter auf.
Von Norden her kommt Rodolfo angerollt, tief auf sein Skateboard geduckt. Hinter ihm in V-Formation zwei seiner Kumpels, gefolgt von drei anderen jungen Leuten, für die der Park ihr Zuhause ist.
Alex spürt, dass sein Blut wie Wildwasser durch seinen Körper rauscht. Während seine Familie stumm zuschaut, springt er über eine Bank, verfolgt von zwei, dann drei, dann vier Cops. Durch die kahlen Sträucher rennt er die Böschung hoch auf die niedrige Mauer zu, die den Ostrand des Parks begrenzt. Die Polizisten wagen nicht, auf ihn zu schießen; hinter dieser Mauer befinden sich ein Gehweg, auf dem es vor Passanten wimmelt, und die Fifth Avenue.
Der Bus der Linie M 1 , der auf der Fifth Avenue von Harlem zum East Village fährt, wiegt schon ohne einen einzigen Fahrgast über zwölf Tonnen. Seine Trommelbremsen sind in der Lage, diesen Koloss zum Stillstand zu bringen, aber der Bremsweg ist erheblich. Gesteuert wird der Bus von einem erst kürzlich eingestellten Fahrer namens Mariano Gomez, und da er vier Minuten Verspätung hat, versucht Gomez, der früher in der peruanischen Hauptstadt Lima Busfahrer war, eine, vielleicht sogar zwei Minuten dadurch aufzuholen, indem er noch schnell über die Kreuzung an der Eighty-Sixth Street huscht, bevor die Ampel auf Rot schaltet.
Sein Bus ist fast voll, wenngleich es noch leere Sitze gibt und daher keinen rechten Grund dafür, dass diese nicht mehr ganz junge Frau mit leuchtend orange gefärbtem Haar und einem schwarzen Skianorak auf einem Bein im Mittelgang steht und die Arme ausstreckt wie eine Seiltänzerin. Irgendeine neue Therapie. Eine neue Sportart. Transzendentales Yoga für Bekloppte. New York! Gelobt sei der Tag, an dem er hierhergezogen ist. Er bemerkt, dass die Fingerspitzen der Frau schwarz verschmiert sind und fragt sich, ob sie wohl zu den vielen Graffitihexen der Stadt gehört – vielleicht waren es sie und ihre Compañeras, die auf viele Werbeplakate für
Blood Sausage
ihren Slogan gesprüht haben – über dem Bild der weiblichen Leiche, die an einem Fleischerhaken hängt, ist dort der Satz
Das erniedrigt Frauen
zu lesen.
Gomez wirft einen Blick auf seinen Tacho und sieht, dass er knapp achtzig Stundenkilometer fährt. Ein wenig flotter, als er vorhatte. Dann hört er Sirenen, und das wirkt auf ihn so, als würde
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