Breed: Roman (German Edition)
herunterreißen muss.
»Schhh. Schhh. Bitte, Xavier,
tranquilo …
« Rosalie steht an seinem Bett, umschlingt ihn mit ihren warmen, weichen Armen und drückt ihn nach unten, genau wie sie es beim Raufen zu Hause immer getan hat. »Ist da niemand?«, ruft sie. »Ich brauche Hilfe.« Und dann, mit schärferer Stimme: »Bitte schalten Sie den Fernseher aus. Sie stören meinen Bruder.«
Xavier hat keine Kraft, sich zu wehren. Er fällt aufs Bett zurück, während der Schmerz ihn mit voller Gewalt durchschießt, der Gewalt der Natur, der Gewalt eines Vulkans. Der Körper – der Geist! – kann den Ansturm von so viel Schmerz nicht überleben …
Obwohl Rosalie versucht, mit ihrer desinfizierten Hand seine Augen zu bedeckten, kann Xavier den Fernseher immer noch teilweise sehen, jedenfalls genug, um das nächste Bild, das auftaucht, zu erkennen. Es ist das Foto eines gutaussehenden, etwa fünfzigjährigen Mannes mit einer teuren Frisur, einem weißen Hemd und einer gestreiften Krawatte. Nichts an dem Bild erinnert Xavier an die Bestie, die ihn aus dem Taxi gezerrt hat – wann war das eigentlich? Wann? Wann? Sein Denken tastet nach einem Gefühl des Zeitablaufs, wie ein Schiffbrüchiger nach einem Wrackteil greift, um den Untergang des Schiffs, auf dem er einst gefahren ist, zu überleben. Der Mensch, denkt er, wurde nicht dazu geschaffen, solche Schmerzen auszuhalten. Schwach, wie er ist, versucht er, Rosalies Hand wegzuziehen, schafft es jedoch nicht, und nun tritt jemand anders neben sie.
Eine Krankenschwester ist da. Ihr faltiges, erschöpftes Gesicht. Ihre Hände. Das leise Rascheln ihrer aus Kunstseide bestehenden Uniform. Ihr nach Pfefferminz riechender Atem.
»So, Mr. Sardina, entspannen Sie sich bitte. Bitte.«
Rosalie nimmt die Hand von seinen Augen, und er starrt zu der Schwester hoch. So schwarz, wie sie ist, kommt sie wohl aus Afrika. Ihre Augen sind dunkelbraun, ihre Miene ist zurückhaltend, aber freundlich. Die Fältchen an ihren Fingern sehen aus wie kleine weiße Ringe.
»Haben Sie Schmerzen, Mr. Sardina?«, fragt die Schwester. »Können Sie die Stärke Ihrer Schmerzen mit einer Zahl von null bis zehn angeben, wobei zehn das Schlimmste ist?«
Xavier betrachtet wieder seine Schulter, die tristen Bandagen daran und die unglaubliche Leere, die folgt. Er erinnert sich: Da hat die Bestie angefangen. Da hat dieser Mann den ersten Biss angesetzt.
Entschuldigung, Entschuldigung
, hat er dann gesagt, als er weggestolpert ist und sich dabei das Kinn abgewischt hat, rasch und flach atmend wie ein Vergewaltiger.
Das nächste Mal bringe ich was mit, um Sie bewusstlos zu schlagen.
»Monster!«, schreit Xavier.
»Monster!«
»Ich brauche Hilfe«, sagt die Schwester so ruhig, wie es ihr möglich ist. »Ist Schwester Gauthier im Dienst?«
»Nein, Amélie musste früher gehen«, antwortet eine Stimme im Hintergrund. »Es gab irgendwelche Probleme bei ihr zu Hause.«
»Ich wusste, eines Tages sehe ich Sie wieder. Manchmal hab ich nach Ihnen gesucht, indem ich einfach in die Gesichter der Menschen geschaut hab, wenn ich zur Arbeit ging. Ich wusste, ich würde Sie wiedererkennen. Obwohl – und das meine ich nicht negativ – Sie gar nicht mehr wie früher aussehen.« Amélie Gauthier sitzt mit Leslie in einer engen Küche an einem blauen Resopaltisch, und sie meint es durchaus negativ. Leslies Haut ist wie ganz leicht rosafarbener Lehm, ihre Augen sind dunkel, liegen tief in den Höhlen und sind vollkommen ohne Glück und Hoffnung. Wie kann Amélie Abneigung gegen eine Person empfinden, die so eindeutig ins Straucheln geraten ist, der es so sichtbar schlechtgeht? Dennoch tut sie es …
Mit jemandem in der Küche der eigenen Wohnung zu sitzen, hat etwas Gastliches an sich, aber Amélie hat Leslie nur deshalb hierhergebracht, weil es der einzige momentan unbenutzte Raum in ihrer Wohnung ist. Was darauf hinweist, dass die Verlassenen, die wilden Kinder aus dem Park, sich schon bedient haben, denn die kommen normalerweise immer zuerst in die Küche. Benommen und schlaff, wie sie ist, hat Leslie sich von Amélie zu einem harten Holzstuhl führen lassen. Die Küche stinkt nach Suppe und dem Hefegeruch von Vitaminen; Leslie muss durch den Mund atmen, um nicht zu würgen. Ihre Hände sind gefaltet. Sie ist wie ein Kind, das in der Schule an seinem Tisch sitzt. Ihr Gesicht ist von Wimperntusche und Tränen verschmiert. Sie sieht aus, als würde sie in einem der Tunnel unterhalb der Pennsylvania Station hausen. Von
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