Breed: Roman (German Edition)
Deutschland?«
Leslie sagt ihm, sie seien auf dem Weg nach Ljubljana in Slowenien, und obwohl das nur eine Flugstunde entfernt ist, scheint der Beamte keine Ahnung zu haben, wovon sie spricht – entweder hat er noch nie von diesem Ort gehört, oder er ist zu sehr damit beschäftigt, Leslies Pass durch seinen Scanner zu ziehen und die auf seinem Bildschirm erscheinenden Informationen zu studieren. Er zieht die Stirn in Furchen und spitzt die Lippen, als wollte er ein keusches Küsschen empfangen. Ein Moment vergeht, gefolgt von einem weiteren. Die gespitzten Lippen des Beamten bewegen sich nach oben und unten. Er tippt etwas auf seiner Tastatur. Wartet. Tippt etwas anderes. Wartet.
Und gerade als Leslie meint, die Ungewissheit keine Sekunde mehr ertragen zu können, knallt er den deutschen Stempel auf die Pässe und schiebt sie ihr mit kurzem Nicken hin.
Auf dem Flug nach Slowenien bittet man Leslie und die Zwillinge, nicht zusammenzusitzen. Es sind nur vierzehn Passagiere an Bord, und die Stewardess in ihrer dunkeltürkisfarbenen Jacke verteilt sie in dem kleinen Jet, damit das Gewicht ausgewogen ist. In der Mitte der Kabine sitzend, blickt Leslie aus dem Fenster und sieht unter sich die Gipfel der Alpen aufragen, schartig und gebrochen, wie gewaltige Gletscher, die auf einem Meer aus schneebedeckten Bäumen schwimmen.
Die Maschine landet weit vom Gate entfernt, und die Passagiere werden in einen Bus getrieben, dessen Türen trotz der Winterluft offen stehen. Er fährt zwischen mehreren großen Passagierflugzeugen hindurch, von denen manche nur dastehen, während andere ihre Triebwerke warm laufen lassen. Leslie späht in die kreisende Turbine eines Swissair-Jets, deren Seiten wie eine Bienenwabe aussehen; sie dreht sich immer schneller, während ihre Hitze die kalte graue Luft kräuselt und ihr Dröhnen immer höher wird, fast wie ein menschlicher Schrei.
»Mom?«, sagt Adam und zupft sie am Ärmel.
Sie sieht ihn fragend an.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragt er.
Sie weiß, eigentlich sollte sie solche Fragen stellen. Ist es wirklich so weit gekommen? Kümmern die beiden sich jetzt wirklich schon um
sie
statt umgekehrt?
»Bin müde, glaube ich«, sagt sie.
»Haben wir Geld?«, fragt Adam.
Sie blickt ihn verständnislos an. »Ein wenig.«
»Wir brauchen Euro«, sagt Alice.
»Woher weißt du das überhaupt?«, fragt Leslie. Sie reckt den Hals und blickt zurück auf die kreisende Swissair-Turbine; die hat etwas an sich, was sie anzieht.
»Mom«, sagt Alice mit liebenswert kindlicher Empörung. »Ich bin zehn, nicht zwei.«
Der Bus hat sie zum Terminal gebracht. Es gibt keine Zollkontrolle, auch die Pässe müssen sie nicht vorzeigen. Leslie hat eine ungefähre Ahnung, wieso das der Fall ist; es hat etwas damit zu tun, dass Slowenien zum Vereinten Europa – oder wie immer das heißt – gehört. Manchmal fühlt ihr Denken sich an wie ein altes Auto, bei dem man den Zündschlüssel dreht, und der Motor springt fast an … fast.
»Wir können uns an einer von den Geldmaschinen was besorgen«, verkündet sie fröhlich, als die drei durch den bescheidenen Flughafen gehen, der nur ein paar Cafés und Shops enthält.
»Das nennt man Geldautomaten, Mom«, sagt Alice.
Leslie fischt ihre Bankkarte aus der Handtasche und streckt sie Alice hin. »Geht zu der Maschine da drüben und besorgt was von dem Geld, das man hier hat, okay?«
»Ich brauche deine PIN .« Alice sieht die Verwirrung auf dem Gesicht ihrer Mutter. »Die Zahlen. Man muss die richtigen Zahlen eingeben, sonst funktioniert die Karte nicht.«
Leslies Miene ist leer, und sie schüttelt langsam und traurig den Kopf. Im Lauf der Jahre hat sie die praktischen Dinge des Lebens immer mehr Alex überlassen. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen Scheck ausgeschrieben oder sich um irgendeine andere finanzielle Angelegenheit gekümmert hat. Mit den schrumpfenden Investments umzugehen, Kontoauszüge abzuheften, Steuern zu bezahlen und den ständigen Strom von Erbstücken zu managen, die sie versteigern haben lassen, war die Aufgabe von Alex, seit … eigentlich kann sie sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie ihm die Zügel überlassen hat. Darüber haben die beiden nie gesprochen, es war keine
Entscheidung
, es hat einfach stattgefunden. Und nun, da sie mit ihren zwei Kindern im Flughafen von Ljubljana steht, hat sie nicht nur keinen echten Plan, wie sie Dr. Kiš finden wollen, sie weiß nicht einmal, wo sie übernachten
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