Breed: Roman (German Edition)
auf sie ein, schockierend detailliert und gespenstisch lebhaft. Gefolgt von ihren Kindern, erklimmt sie die steinerne Treppe. Sie riecht, dass irgendwo Reis kocht. Im zweiten Stock steht die Tür zu jemandes Wohnung offen. Sie hört den Fernseher oder das Radio, sieht einen Schirmständer mit sechs oder sieben Schirmen, deren Holzgriffe wie ein Strauß Fragezeichen aussehen.
»Wie geht’s euch?«, fragt sie.
»Wird er uns Spritzen geben?«, fragt Adam.
»Uns geht’s gut«, sagt Alice rasch.
Sie hören das Klicken von Krallen auf den Steinstufen. Es kommt auf sie zu. Wenig später taucht ein Mann auf. Er ist stämmig, der leere linke Ärmel seiner Lederjacke ist an die Lasche der Seitentasche geheftet. In der rechten Hand hält er eine Leine aus Kettengliedern, an deren anderem Ende sich ein zottiger, hechelnder Pyrenäenberghund befindet, etwa fünfzig Kilo schwer und bis auf einen Sattel aus hellbraunem Fell schneeweiß.
Im Moment meint Leslie, es gebe eine Verbindung zwischen diesem Mann und seinem Riesenhund zu Dr. Kiš – so wie der kleine Engländer eine Verbindung zu dem Rottweiler des Arztes hatte.
»Entschuldigen Sie?«, sagt Leslie zu dem Mann, als er direkt vor ihr ist.
Er sieht sie argwöhnisch an und fasst die Leine fester.
»Kennen Sie Dr. Kiš?«, fragt sie. »Ist er noch …«
Doch ihre Frage ist fast nicht zu hören. Der Klang ihrer Stimme hat in dem Hund einen Beschützerinstinkt ausgelöst. In seine dunklen Augen tritt ein zorniges Funkeln, und er stößt ein tiefes, dröhnendes Gebell aus. Bei jedem Bellen versucht er, sich auf Leslie zu stürzen, die wiederum jedes Mal zurückweicht.
Der Einarmige zerrt den Hund von ihr weg und geht weiter die Treppe hinab. Dabei ruft er den dreien etwas über die Schulter hinweg zu. Es klingt so, als wollte er sich entschuldigen, aber da sind sie sich nicht ganz sicher.
»Ich könnte ihn umbringen«, sagt Leslie mit müder Stimme. Sie merkt, dass die Kinder das gehört haben. »Alles in Ordnung?«, fragt Leslie.
»Der Hund hatte Angst«, sagt Adam.
»Nein, das war ein böser Hund«, sagt Leslie. Sie spürt die Blicke der Kinder auf sich wie kleine Finger, die versuchen, sie aufzubrechen, um in sie hineinzublicken. Da kommt ihr plötzlich der Gedanke:
Die wissen alles.
Der nächste Treppenabschnitt erwartet sie. Und der übernächste. Und der überübernächste. Sie sagt sich, das Erscheinen dieses schrecklichen Hundes sei in Wirklichkeit ein gutes Omen gewesen. Es bedeute, dass Kiš sich hier im Haus befindet …
Eines steht fest: Ihre Denkvorgänge sind nicht mehr zuverlässig. Momentan könnten die Bewohner eines Pflegeheims sie diesbezüglich in die Tasche stecken. Dennoch ist Leslie sich sicher, dass die Praxis von Kiš sich im obersten Stock dieses Gebäudes befunden hat, und sobald sie vor der Tür steht, durch die man früher in seine Räume gelangt ist, weiß sie genau, dass sie zum richtigen Ort gekommen ist. Auf dem Türschild aus Messing steht jedoch etwas Unverständliches auf Slowenisch, und in das Metall ist die Silhouette einer Frau eingraviert, die Yoga macht. Außerdem dringt der Geruch von Räucherstäbchen durch den Spalt unter der Tür. Dennoch klopft Leslie. Stille. Leslie wirft einen nervösen Blick auf Adam und Alice. Die beiden halten sich an der Hand wie zwei Gassenkinder, die man auf einem leckgeschlagenen Schiff alleingelassen hat.
Endlich wird die Tür von einer Frau Anfang dreißig geöffnet. Sie hat eine dunkelorange gefärbte Pixie-Frisur und trägt einen Sport- BH und Cargohosen. In einer Hand hält sie eine zusammengerollte Yogamatte, in der anderen einen Becher mit irgendetwas. Sie sieht Leslie und die Zwillinge mit unverhohlener Verblüffung an.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagt Leslie. »Sprechen Sie Englisch?«
»Nicht so gut, aber doch, ich versuche.« Die Stimme der Frau ist weich und melodisch. Sie lächelt.
»Ich suche nach Dr. Kiš«, sagt Leslie. Das klingt in ihren Ohren zu schroff, weshalb sie es verbessert. »Also, wir drei suchen nach ihm.«
»Hier ist kein Doktor«, sagt die junge Frau. »Sind Sie …? Wollen Sie hineinkommen? Einen Moment hier ausruhen? Ich kann Ihnen sagen, wo das Krankenhaus ist.«
»Wir brauchen kein Krankenhaus«, sagt Leslie.
»Aber trotzdem danke«, ergänzt Alice rasch.
»Ja, danke, vielen Dank«, sagt Adam.
»War dies hier früher eine Arztpraxis?«, fragt Leslie.
Die Frau schweigt. Ihr vorher milder Blick wird intensiver, während sie erst Leslie und
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