Breed: Roman (German Edition)
sie für ihre Kinder oder irgendjemand sonst keine größere Gefahr war als ein Schatten an der Wand, aber wenn sie das gesagt hätte, so hätte es niemanden beruhigt. Deshalb hat Leslie einfach die Demütigung erduldet, ständig beobachtet zu werden, während die dunkelsten Stunden der Nacht kamen und dann langsam in eine trübe, regnerische Dämmerung übergingen. Die Zwillinge haben sich entweder mit ihrem Videospiel beschäftigt oder damit, Hand in Hand nebeneinander zu sitzen und über alles nachzugrübeln, was sie gesehen und verloren haben.
Irgendwann – Leslie hatte Angst, auf die Uhr zu schauen, da sie wusste, die genaue Zeit würde sie nur elend machen – ist auch Bernard aufgewacht, und bevor sie es sich versah, stand sein Rollstuhl neben ihr. Sein Computer war zugeklappt, seine künstliche Hand lag auf dem Deckel. Sie hat ihn angeschaut, ein mattes Lächeln zuwege gebracht und den Blick dann wieder abgewandt; so etwas wie ihn hatte sie noch nie gesehen. Das genetische Desaster, das er darstellte, war überwältigend.
»Bist du wirklich meine Mom?«, hat er durch den winzigen Strich seines Mundes gekrächzt.
Sie hat den Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt. »Das weiß ich nicht«, hat sie gesagt. Doch nach einigen Augenblicken Schweigen hat sie hinzugefügt: »Ich glaube schon.«
Nun sitzen Leslie, Adam und Alice also erschöpft und schweigend in einer Sitzreihe der Abflughalle von Newark. Adam greift nach der Hand von Alice. Deren Augen sind halb geschlossen, fast wie in Trance blickt sie auf die Lichtbänder an der Decke. Doch als sie seine Berührung spürt, schließt ihre Hand sich um die von Adam. Sie erinnert sich an etwas, was genau so ist, wie sie es einmal geträumt hat: Als sie am Nachmittag den Wohnblock von Amélie verlassen haben, hat jemand oben ein Fenster geöffnet – natürlich war es Rodolfo, wer sonst – und herausgebrüllt: »Hey, hey, hey, ich liebe dich. Wir sehen uns, wenn ihr zurückkommt. Okay?«
»Weißt du noch, wie ich dir von meinem Traum erzählt hab?«, fragt sie Adam.
»Schhh«, sagt er und deutet mit einer unauffälligen Geste an, dass jemand sie beobachtet.
Das stimmt tatsächlich. Ein großer Mann in den Fünfzigern mit rötlichem Gesicht und struppigen Augenbrauen. Er legt den Kopf schief wie ein Hund, der versucht, den Ursprung eines Geräuschs zu lokalisieren.
»Mom?«, sagt Adam.
Leslie blickt zu dem Mann hoch und verspürt schneidende Furcht, scharf genug, um den Schleier des Beruhigungsmittels zu durchstoßen. Der Mann sieht aus wie Richard Zolitor, der Vertriebschef ihres alten Verlagshauses. Hat er gehört, was mit ihrem Mann geschehen ist, weiß er, dass sie und die Kinder vermisst werden, und fügt er die Einzelteile nun, da er die drei sieht, zusammen?
Bald stellt sich jedoch heraus, dass der fragende Blick des Mannes überhaupt nichts mit den dreien zu tun hat. Er sucht nur nach der nächsten Herrentoilette, und als er das Schild sieht, eilt er darauf zu.
Leslie wirft einen Blick auf die Abflugtafel – es ist merkwürdig, hier draußen zusammen mit der Mehrheit der Reisenden mit ihren Turbanen und Filzhüten und Kippot und billigen Dauerwellen zu warten, statt komfortabel in der First-Class-Lounge zu sitzen. Sie sieht, dass mehrere Flüge storniert worden sind. Momentan verlangt sie so wenig vom Schicksal, dass sie sich ein bisschen weniger verloren fühlt und sogar relativ glücklich schätzt, weil der Flug nach München nur als verspätet angegeben wird.
Sie ist völlig ausgehungert, und im ganzen Flughafen gibt es kein Stückchen auf einem Grill, in einer Pfanne oder einer Mikrowelle brutzelndes Fleisch, das sie nicht mit extremer Intensität und Gier riecht. Allerdings fürchtet sie, ihren Kindern Angst zu machen, wenn sie ihren Appetit zur Schau stellt. Und obgleich Leslie emotional in zwei Richtungen gezogen wird – zum einen ein tiefer, erdrückender Kummer über den Verlust ihres Mannes und besten Freundes, zum anderen eine wilde Hoffnung, bald aus dem biologischen Kerker zu entkommen, in den Dr. Kiš sie verdammt hat – dominiert in ihr der sehnliche Wunsch, ihre geliebten Kinder zu beschützen.
Geliebt hat sie die beiden immer, aber wie sie jetzt mit ihnen in der Abflughalle von Newark sitzt, mit Ketten aus Kummer und Furcht an sie gefesselt, fühlt sie sich stärker mit ihnen verbunden denn je. Was mit ihnen allen geschehen wird, sobald sie Dr. Kiš finden und das einnehmen, was er von ihnen verlangt, oder sich irgendeiner
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