Breed: Roman (German Edition)
Jemand hat einen kleinen Koffer mit Schottenmuster zurückgelassen. Wo sind nur alle hin? Nach links und rechts blickend, geht Leslie vorsichtig auf die Waschbecken zu. Nun sieht sie, was alle aus der Damentoilette verscheucht hat: eine Ratte, mindestens fünfzehn Zentimeter lang und ihrer Größe nach zu urteilen ein Alphatier, mit langen Schnurrhaaren und einem Schwanz, der die Farbe von feuchtem Kitt hat.
Die Ratte will flüchten, doch die kleine Öffnung in der Wand, aus der sie geschlüpft ist, befindet sich hinter Leslie, und die ist zu flink für den rennenden Nager. Ohne es zu wollen, ja ohne richtig zu wissen, was sie tut, hält Leslie das Tier auf, indem sie ihm auf den Schwanz tritt. Als es sich umdreht, um die Zähne in ihren Fuß zu schlagen, zermalmt sie mit ihrem anderen Fuß sein Rückgrat. Es zuckt noch ein-oder zweimal; aus seinem Mund rinnt ein feiner Blutfaden.
Leslie steht da, schluckt, atmet tief durch. Eigentlich würde sie sich das Ding gern sofort in den Mund stecken und mit großen, gierigen Bissen verschlingen. Doch so ausgehungert sie auch ist, sie muss sich gegen ihren Impuls sträuben. Wenn sie nach Ratte stinkend zu den Kindern zurückkommt, wird das jedes Vertrauen in sie zerstören, das die beiden zu ihr haben … Mit einem Fußtritt befördert sie die Rattenleiche unter ein Waschbecken und wäscht sich dann Hände und Gesicht. Als sie gerade Papierhandtücher aus dem Spender zieht, um sich abzutrocknen, kommen zwei Putzfrauen herein, die eine mit Mopp und Eimer, die andere mit einer Taschenlampe.
»Unter dem Waschbecken da«, sagt Leslie zu den beiden, während sie in die Abflughalle zurückeilt. Sie steckt die Hand in die Tasche und rüttelt an dem Pillenfläschchen, das sie von Amélie bekommen hat. Offenbar wirkt das Zeug.
Während des gesamten Flugs nach München schlafen die drei. Sie verschlafen den Start, die Sicherheitsanweisungen, den ersten Film, den zweiten Film, mehrere extreme Turbulenzen, die beruhigenden Sprüche des Piloten und die Landung. Der Geruch des Abendessens weckt Leslie vorübergehend auf; sie isst alles von ihrem Tablett, und als sie das im Bauch hat, isst sie auch noch alles von den Tabletts der Zwillinge, denn es hat den Anschein, als könnte nichts, nicht einmal der Duft von Hühnchen und Schokoladenkeksen, die beiden aufwecken. Abgesehen davon können nicht einmal drei Flugzeugmahlzeiten Leslies Hunger stillen.
Wegen der Verspätung ihres ersten Flugs haben sie nur wenig Zeit, die Maschine nach Ljubljana zu erreichen. Sie haben zwar nur einen einzigen Koffer dabei – und dieser Koffer ist eigentlich leer und dient nur dazu, sie wie normale Reisende aussehen zu lassen –, aber auf jeden Fall müssen sie durch die Passkontrolle, bevor sie zum Gate von Adria Airways dürfen. Dank deutscher Effizienz bewegt die Schlange sich rasch vorwärts, doch da Leslie derart nervös darauf wartet, die Kontrolle hinter sich zu bringen, um zu ihrem Anschlussflug zu eilen, nähert sie sich den Grenzbeamten mit einem unguten Gefühl. Vielleicht ist inzwischen eine Meldung herausgegangen, und ihr Name und die Namen ihrer Kinder stehen auf einer …
wie nennt man das? Fahndungsliste!
Ihre Namen könnten auf einer Fahndungsliste stehen. Schließlich geht es um zwei Todesfälle. Und um zwei vermisste Kinder.
Und Cynthia!
»O Gott.«
»Was ist denn, Mom?«, erkundigt sich Adam.
»Mir ist bloß gerade was eingefallen«, sagt Leslie. »Ist schon in Ordnung.« Doch die Erinnerung an ihre in der Küche sitzende Schwester ist mit einer zweiten, noch bestürzenderen Erinnerung verknüpft: der an den Mann in dem Käfig unten. Sie stößt einen langen an-und abschwellenden Seufzer aus.
»Mom?«, sagt Alice.
»Wir sind dran«, sagt Leslie, da der junge Uniformierte in seinem Häuschen die drei gerade zu sich gewinkt hat. Sie spürt den machtvollen Impuls, sich umzudrehen und davonzulaufen. Sie sieht sich sogar schon durch die morgendliche Stille des frisch geputzten Flughafens rennen, über Sitzreihen hechten, eine Rolltreppe hinaufspringen. Aber sie streckt die Hand aus, worauf ihr erst Adam seinen Pass gibt, dann händigt Alice den ihren aus, und einen Moment später schiebt Leslie dem Grenzbeamten alle drei Pässe hin. Die Augen des Beamten sind klein und stehen ungewöhnlich nahe zusammen; seine Lippen sind üppig und gerundet wie Cocktailwürstchen.
Während er die Nummern der Pässe in seinen Computer tippt, fragt er auf Englisch: »Sie bleiben in
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