Breed: Roman (German Edition)
anderen Prozedur unterziehen, um die Mutation rückgängig zu machen, die seine Behandlung verursacht hat – das liegt völlig im Dunkeln. Vielleicht wird es ihnen nie wieder möglich sein, nach Amerika zurückzukehren – was von ihrem Geld noch übrig ist, das Haus, Leslies Schwester, das könnte alles verloren sein. Vielleicht werden sie als Flüchtlinge leben müssen, irgendwo im Wald … Nein, das ist verrückt. Sie schüttelt heftig den Kopf, wie um ihre Gedanken umzusortieren.
»Hört mal, Kinder, bleibt hier sitzen, ja?«, sagt Leslie. »Ich muss aufs Klo.«
Die beiden sehen besorgt drein, widersprechen jedoch nicht, und Leslie, von dem plötzlichen Bedürfnis erfasst, sich zu erleichtern, eilt zur Damentoilette.
»Was ist, wenn sie nicht wiederkommt?«, flüstert Alice ihrem Bruder zu.
»Die kommt schon wieder.«
Alice klappt ihren Pass auf und betrachtet das kleine Foto darin. Es ist vor vier Jahren aufgenommen worden, als sie in den Winterferien eigentlich nach Mexiko wollten, aber doch nicht hingeflogen sind. Ihr Haar ist in der Mitte gescheitelt, und ihre Augen sind so weit geöffnet, dass sie fast wie Kreise aussehen. Sie hat das breite Lächeln einer Siebenjährigen. Vor allem jedoch sieht sie glücklich aus, und der Anblick ihres früheren Grinsens erfüllt Alice mit Melancholie. Sie klappt ihren Pass wieder zu, behält ihn jedoch in der Hand, um ihn immer im Blick zu haben.
»Sieben Stunden bis München«, sagt Adam weise nickend, als wäre es Männersache, über die Flugzeit Bescheid zu wissen.
»Da können wir schlafen.«
»Von da ist es noch etwa eine Stunde nach …«
»Lufthansa.«
»Nein. Das ist eine Fluglinie. Ljub … Ljub und noch irgendwas.«
»Wir können nie wieder in die Schule gehen«, sagt Alice.
»Das will ich auch gar nicht.«
»Du hast ihn besser gekannt als ich.«
»Er war mein Freund«, sagt Adam mit so leiser Stimme, dass Alice nicht ganz sicher ist, ob er es tatsächlich ausgesprochen hat oder ob sie einfach nur weiß, was er denkt.
Leslie sitzt in einer der Kabinen, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt und das Gesicht in der Wärme ihrer Hände vergraben. Sie versucht, lautlos zu weinen, während sie spürt, wie ihr die Tränen durch die Finger sickern. Sie sieht alles, wieder und wieder und wieder: wie der Lehrer durch die Luft fliegt, den Ausdruck auf seinem Gesicht, während er auf den Tod wartet, den keuchenden Alex, dem ein Speichelfaden aus dem offenen Mund hängt, bevor er hektisch auf die Fifth Avenue zurennt …
Einen Moment lang vergisst sie, wo sie sich befindet.
Einen Moment lang vergisst sie sogar ihren eigenen Namen.
Doch das ändert sich bald wieder, obwohl sie sich fast wünscht, es wäre anders. Zum ersten Mal im Leben denkt sie, sie könnte es wirklich eines Tages tun: sich selbst töten.
Jemand klopft scharf und fragend an die Kabinentür. Leslie ist zu erschrocken, um etwas zu sagen.
»Ist alles in Ordnung da drin?«, fragt eine Stimme.
Leslie ist nicht fähig zu antworten. Sie hält den Atem an und zwingt sich, vollkommen still zu sein.
Die Person draußen versucht, die Tür zu öffnen. Der Riegel klappert im Schloss.
»Hallo?«, sagt die Stimme. »Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich jemanden rufen?«
Eine ältere Frau, nach dem Zittern ihrer Stimme zu urteilen.
Mit einem Akzent wie dem einer Prinzessin. Nein, das ist etwas anderes. Wie nennt man so einen Akzent? Britisch. Britisch. Ein britischer Akzent. Komm schon, Leslie, reiß dich zusammen!
Sie steht auf, was automatisch die Toilettenspülung auslöst. Während sie die Hose hochzieht, betrachtet sie ihre Oberschenkel. Da nun Alex nicht mehr da ist, um sie zu lieben und ihr zu sagen, sie sei schön, steht nichts und niemand mehr zwischen ihr und dem Ekel, den sie vor ihrem Körper empfindet.
»Ich bin gleich fertig«, ruft sie durch die geschlossene Metalltür ihrer Kabine. Sie blickt nach unten, um sich zu vergewissern, dass nichts von ihrem Körper durch den Spalt zwischen Tür und Boden sichtbar ist.
Plötzlich hört Leslie eine große Aufregung. Es beginnt mit einem Schrei, gefolgt von einem zweiten, noch lauteren Schrei, und dann ruft jemand: »Igitt, um Gottes willen, das ist ja dermaßen eklig.« Das Trappeln von Schritten, das Geräusch von Rollkoffern, die rasch hinausgeschoben werden, und dann Stille.
Als Leslie aus der Kabine tritt, ist der Raum verlassen. Niemand steht an den Waschbecken; die anderen Kabinen sind leer, ihre Türen stehen weit offen.
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