Breed: Roman (German Edition)
oder wie sie das Taxi in die Stadt bezahlen sollen. Schon gar nicht erinnert sie sich daran, wie der Geheimcode lautet, mit dem dieses Stück blaues Plastik eine in einem fremden Land stehende Maschine dazu bringen kann, ein Bündel Geldscheine auszuspucken.
»Das weiß ich nicht«, sagt sie leise. Als sie die bestürzten Blicke der Kinder sieht, verteidigt sie sich mit: »Mir geht’s gerade nicht so gut, okay?«
Alice nimmt die Karte entgegen, und die Zwillinge marschieren zum Geldautomaten, um ihr Glück zu versuchen. Die ersten vier Zahlen, mit denen sie es versuchen, sind ihr Geburtsdatum, und sie sind noch zu jung, um sich völlig bewusst zu sein, wie erstaunlich es ist, dass es funktioniert.
»Hol mal fünfhundert raus«, flüstert Adam. »Dann geben wir ihr hundert und behalten den Rest.«
Alice nickt zustimmend, und sie stellen sich Schulter an Schulter, damit ihre Mutter nicht sehen kann, wie sie sich die Geldscheine in die Taschen stopfen.
»Bringen Sie uns in ein schönes Hotel, bitte«, sagt Leslie zu dem Taxifahrer, und der fährt sie in einen Teil der Stadt, der ihr vertraut ist, allerdings nicht zu dem Hotel, in dem sie mit Alex vor fast elf Jahren übernachtet hat. Wofür sie dankbar ist. Das Gefühl, ihn zu vermissen, ist ein tauber Schmerz, der sich auszubreiten scheint – von ihrem Herzen in ihren Magen, ihre Gedärme, ihre Augen, ihren Hals, ihre Arme und Beine. Er nimmt sie in Besitz, als wäre er ein Parasit und sie dessen Wirt.
Der Fahrer ist ein netter Kerl. Er trägt eine braune Lederjacke über einem T-Shirt mit Tito-Porträt und hat ein rundes, jugendliches Gesicht, obwohl sein kurzes Haar schon ergraut ist. Anstelle seines linken Ohrs, das nicht mehr vorhanden ist, befindet sich eine kleine rosa Fleischfalte, die wie eine Schamlippe aussieht.
»Das ist ein guter Platz«, sagt er, während er seinen schwarzen Renault vor dem VIP Hotel stoppt.
Es handelt sich um einen Ort, in den Alex niemals den Fuß gesetzt hätte. Selbst auf dem Weg in den Bankrott, bewachsen mit struppigen dunklen Haaren und unbeschreiblichen Versuchungen ausgeliefert, hat er den Geschmack und das Prestigedenken seiner Ahnen beibehalten und sich bis zum Ende als Mann gesehen, der einfach nicht in von Softwarevertretern und Billigtouristen frequentierten Hotels absteigt.
»Wie viel?«, fragt Leslie.
»Vierzig Euro, bitte«, sagt der Fahrer. Nachdem sie ihn bezahlt hat, entnimmt er einem mit Gummibändern an der Sonnenblende befestigten Plastikhalter eine Visitenkarte. »Wenn Sie was brauchen, Sie wollen mich rufen, bitte. Slavoj Bukovec. Sie brauchen Fahrt. Sehenswürdiges. Vielleicht Sie wollen zu Skibergen. Slavoj Bukovec steht auf Hab-Acht. Ich bin vierundzwanzig Stunden für Ihnen da.« Er reicht ihr die Karte, auf der ein Auto im Cartoonstil abgebildet ist, mit langen Wimpern über den Scheinwerfern und kleinen Herzen, die aus dem Auspuff kommen. Leslie liest den Namen.
»Slavoj?«
»Slav-oh«, sagt er. »Das
J
am Ende schweigt, es schweigt wie viel in diesem Land, wo meiste Geheimnisse ins Grab mitgenommen werden.«
»Tja, wenn Sie ein wenig warten könnten, während wir einchecken?«, fragt Leslie. Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Es ist kurz nach neun Uhr morgens, Kiš ist wahrscheinlich in seiner Praxis oder dahin unterwegs. »Wir müssen zu einem Arzt, und Sie können uns hinbringen.«
»Aber gern. Sie haben die Straße und die Nummer?«
»Das ist das Problem«, sagt Leslie. »Aber ich glaube, ich kann mich erinnern, wie man hinkommt. Vielleicht kennen Sie ihn auch – er ist ziemlich bekannt.«
»Slowenische Medizindoktors sind mit die besten von Welt«, sagt Slavoj.
»Auf dem Weg zu diesem Arzt sind wir über die Brücke mit den … wie nennt man die? Monster.« Leslie breitet die Arme aus und schwenkt sie auf und ab.
»Mom«, sagt Alice ebenso warnend wie flehentlich.
»Drachenbrücke«, sagt Slavoj.
»Genau!«, ruft Leslie. Farbe strömt in ihr Gesicht. Nun weiß sie mit einer Art ruhiger Gewissheit, dass alles klappen wird. »Und es war am Burgplatz.«
»Ganz in Nähe«, sagt Slavoj. »Ich kann Sie bringen hin.«
»Oh, danke, danke, danke!«, sagt Leslie. »Kommt, Kinder, wir checken ein, waschen uns und machen uns bereit.« Zu Slavoj sagt sie: »Fünfzehn Minuten, okay?«
»Massig okay das«, sagt Slavoj.
Als sie einchecken, muss Leslie wieder die Pässe vorzeigen, und wieder geht alles glatt. Der Mann an der Rezeption erklärt, momentan seien viele Zimmer frei – falls es
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