Breed: Roman (German Edition)
wieder in die Decke hüllt und aus dem Zimmer führt.
»Blanca«, ruft Alex, »una ambulancia, por favor. ¡Rápido! ¡Ahorita! Das Baby kommt!«
Eigentlich hat er
Babys
sagen wollen. Sie erwarten zwei, doch tatsächlich sind es drei, zwei perfekt ausgebildet, ein Junge und ein Mädchen, während das dritte verbogen und deformiert ist, eine scheußliche Mischung aus Knochen und Gel, ein Kuddelmuddel aus Materie mit einer Art Mund darin, mit etwas, das wie ein Auge aussieht, mit einer Hand. Im Krankenhaus verfügt man über die Erfahrung und die Technologie, mit Frühgeborenen umzugehen, aber manche Babys sollten einfach nicht auf der Welt sein, und die Ärzte wie auch die meisten Schwestern wissen, wie man ein gelegentliches Monster wegschafft, das nicht leben will oder nicht leben sollte und das vor allem von der Mutter nicht gesehen werden sollte. Oder vom Vater. Oder von irgendjemand anders. Es gibt grässliche genetische Fehler, und die Welt muss davon befreit werden. Das Leben von Kindern, die so beklagenswert scheußlich sind, kann ausgeblasen werden wie ein Streichholz – das ist ganz einfach, und das Leben, das es sonst ertragen müsste, bestünde nur aus Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Da ist dieser kleine Mord eigentlich eine barmherzige Tat.
Der Arzt, der Leslie zur Seite steht, ist weder Kosloff noch Yost noch irgendein anderer Mediziner, den sie in der Gemeinschaftspraxis gesehen hat. Er ist ein junger, gut aussehender Mann, der mit seinem Körperbau und seinem weichen blonden Haar etwas von einem Skilehrer an sich hat. Bei der Arbeit pfeift er. Für die beiden Babys, die überleben könnten, stehen Brutkästen bereit, doch sobald man den Jungen und das Mädchen gereinigt und ihre Atemwege von Leslies Schleim befreit hat, wird dem Gynäkologen und der Schwester klar, dass man wohl das Geburtsdatum falsch berechnet hat. Die Zwillinge sind sehr lebendig und haben einen wunderschönen, glänzenden Haarschopf; sie brauchen weder einen Brutkasten noch irgendwelche anderen ärztlichen Interventionen. Sie brauchen ihre Mutter, weshalb Arzt und Schwester sie in Windeln wickeln und Leslie überreichen. Trotz ihrer Erschöpfung lächelt diese glücklich und streckt die Hände mit einer Geste voll Stolz und Besitzanspruch aus, die so alt wie das Leben selbst ist.
Beide haben dasselbe Muttermal, einen kleinen roten Schnörkel auf der rechten Hand. Wunderhübsch!
Die zweite Krankenschwester kommt ins Entbindungszimmer zurück. Sie heißt Amélie Gauthier und ist Frankokanadierin, etwa vierzig Jahre alt, dürr und streng religiös. Sie steckt ihr blitzendes goldenes Kruzifix unter die obersten Knöpfe ihrer Uniform, und als der Arzt ihr einen fragenden Blick zuwirft, spitzt sie die Lippen und nickt kurz, um anzudeuten, dass die unangenehme Angelegenheit des dritten Kindes erledigt ist, weshalb man keine weiteren Worte zu diesem Thema verlieren muss. Der Arzt sieht sie erneut fragend an, um sicherzustellen, dass alles klar ist, und Schwester Gauthier wendet den Blick ab.
2
Zehn Jahre später
Und führe uns nicht in Versuchung …
Matthäus 6 , 13
S eit langem schon, so lange, wie es sich erinnern kann, fürchtet dieses Kind die Nacht. Was den Jungen ängstigt, ist nicht die Möglichkeit, in der Dunkelheit könnte ein Gespenst lauern, ein Geist oder Skelett, ein einäugiges Gruselding oder ein Zombie, Freddy Krueger, Jason Voorhees oder ein anderes Halloween-Monster. Wenn das letzte Licht vom Himmel verschwunden ist und er in seinem Zimmer sitzt, werden seine Gedanken immer ängstlicher. Er stellt sich vor, verfolgt zu werden; er stellt sich vor, geschnappt zu werden. Er hört Schritte die Treppe zur zweiten Etage heraufkommen, wo sein Zimmer neben dem seiner Zwillingsschwester liegt, seiner besten Freundin, der einzigen Person, mit der er befreundet ist. Er stellt sich vor, dass ihr etwas Schlimmes zustößt. Er hört Stimmen, er hört Gebell, er hört Schreie. Am schlimmsten jedoch ist es, wenn alles still wird und wenn das Schweigen des Hauses ihm die Frage eingibt, ob die Welt vor seiner Tür wohl verschwunden ist.
Nein, das ist doch nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist es, wenn er schläft und von Säbelzahntigern und anderen fleischfressenden Tieren träumt. Manchmal sieht er die in seinen Träumen aus der Ferne, manchmal sind sie ganz in der Nähe. Manchmal jagen sie ihn, und er entkommt, manchmal fangen sie ihn, und manchmal sind diese Kreaturen über seinem Bett, und im Traum öffnet er
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