Breed: Roman (German Edition)
die Augen und sieht ihnen direkt ins Gesicht.
Nein, das ist auch nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist es, dass niemand da ist, dem er das alles erzählen kann, und niemand, der ihn beschützt. Am schlimmsten ist es, dass die Gesichter dieser Kreaturen die Gesichter seiner Eltern sind. Am schlimmsten ist: Obwohl er es nicht in Worte fassen kann und es sich erst auf irgendeine Weise vollständig klarmachen muss, weiß er, dass dieser Traum wahr ist.
»Weißt du, wo unser altes Babyphon ist?«, fragt Alex Leslie, während sie einen Mitternachtsimbiss verzehren. Nackt sitzen sie in der Küche am Tisch, der von einer einzelnen Glühbirne beleuchtet wird.
»Wozu brauchst du das denn?«, fragt Leslie mit tiefer, sinnlicher Stimme, vollständig entspannt von der schönen Zeit, die sie gerade im Bett verbracht haben.
»Ich dachte, wir könnten es im Keller installieren«, sagt Alex.
»Ach, nein. Ich glaube, das ist keine besonders gute Idee. Ich will nicht hören, was da unten vor sich geht.« Ihr Teller ist jetzt leer, sie leckt an ihren Fingern, um sie anschließend in den salzigen Saft zu tauchen.
»Keine Ahnung?«
»Wovon?«
»Davon, wo das alte Babyphon ist. Ich dachte, es ist in einem der Kleiderschränke im Schlafzimmer.«
»Wieso hätten wir es denn aufbewahren sollen?«, fragt Leslie.
»Ich hab den Eindruck, da drin hat jemand herumgestöbert.«
»Wir haben es weggeworfen, ganz bestimmt«, sagt Leslie, greift über den Tisch und nimmt sich ein Stück Knorpel, das Alex auf seinem Teller gelassen hat.
Ihre Stimmen klingen blechern und verkratzt, wenn sie durch das beige Plastikgitter des alten Babyphons kommen. Was sie sagen, kann er nur hören, wenn sie sich relativ nahe an dem Sender befinden, den er heimlich in ihrem Schlafzimmer versteckt hat. Seine Mutter spricht als Erste.
Ich bin müde. Was ist mit dir?
Mir geht’s gut.
Bist du geil?
Bis zu deiner Frage war ich’s nicht.
Rasch greift Adam nach unten und schaltet den Empfänger ab, den er neben seinem Bett aufgestellt hat. Er weiß, was als Nächstes geschieht. Das hat er früher schon gehört. Einmal. Und einmal war genug.
Am Morgen schiebt Adam das Babyphon weit unters Bett und wartet darauf, dass seine Tür aufgeht.
»Guten Morgen, Schatz«, sagt seine Mutter. Sie trägt Jeans und einen Rollkragenpullover, ihr dichtes, üppiges Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sieht heute sehr glücklich aus. Ihre Lippen sind dunkelrot, ihre Zähne blendend weiß.
»Guten Morgen.«
»Hi«, sagt Alice, seine Zwillingsschwester. Sie steht schon neben ihrer Mutter im Flur, gekleidet für die Schule.
»Hi, Alice«, sagt Adam. Er schiebt die Decke weg und steigt aus dem Bett. Er ist ein zarter, recht hübscher Junge. Seine Glieder sind lang und dünn; seine Hände sehen so aus, als wären sie dazu geschaffen, einem Mignonflügel Musik von Chopin zu entlocken. Er ist ein nachdenkliches Kind. Da er außer seiner Schwester keine Freunde hat, findet er kein Vergnügen an Sport oder irgendwelchen anderen Betätigungen, für die mehr als eine Person erforderlich sind. Er mag Schach, doch sein einziger Gegner war bisher ein Computerprogramm. Alice weigert sich, Schach zu spielen. Sie ist künstlerisch begabt, verträumt und hat kein Interesse an Spielen, bei denen Figuren geschlagen und in eine Schachtel geworfen werden. Er sagt, er wolle einmal Arzt werden, und Leslie denkt manchmal, dass die erste Person, die Adam berührt, auf einer Untersuchungsliege liegen wird.
Leslie verabscheut Ärzte, eine Antipathie, die von ihrem Mann geteilt wird, doch beide haben keinerlei Absicht, ihren Sohn von seinem Vorhaben abzuhalten. »Was du auch tust, wir werden immer stolz auf dich sein und dich immer lieb haben«, sagen sie zu ihm.
Adam sammelt seine Anziehsachen ein und macht sich auf den Weg in sein kleines privates Badezimmer. Was Körperpflege angeht, ist er ausgesprochen sorgfältig, vielleicht sogar ein wenig übertrieben. Es ist Leslie schon in den Sinn gekommen, dass Adam unter einer Art Zwangsstörung leiden könnte oder an irgendeinem anderen Problem, das ihn dazu bringt, unnatürlich auf seine Reinlichkeit fixiert zu sein. Leider kommt es absolut nicht infrage, ihn zu einem Psychiater oder zu jemand anders zu schicken, dem er sich öffnen und von seinem Leben zu Hause erzählen könnte.
Das ist nur eine von vielen zu einem normalen Leben führenden Straßen, an deren Zufahrt ein riesiges Schild mit der Aufschrift EINFAHRT VERBOTEN
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