Breed: Roman (German Edition)
Fragen nach irgendwelchen Gründen für sein Verhalten zu beantworten, aber sie zögert trotzdem, auch nur einen Schritt näher zu kommen. Momentan liegen noch etwa drei Meter zwischen den beiden.
Wie ein scheues Tier kriecht die andere Hand des Jungen aus dem Schutz der Decken. Diese Hand ist knochig und an einem Handgelenk befestigt, das aus einem lose sitzenden Pullover ragt. Der Junge drückt einen Knopf auf seinem motorisierten Rollstuhl und kommt Alice immer näher.
Lauf weg, lauf weg!
, sagt sie sich, bringt es jedoch nicht übers Herz – vor einer Gefahr wegzulaufen, ist etwas ganz anderes, als vor der Angst wegzulaufen, etwas so Hässliches zu sehen.
Bernard hält seinen Rollstuhl genau in dem Augenblick an, in dem die schmalen, mit einem tiefen Profil versehenen Reifen die Spitzen von Alice’ Schuhen berühren.
»Schoß«, sagt er, und als Alice nicht reagiert, wiederholt er das Wort, diesmal entschlossener.
Sie senkt den Blick und sieht in Bernards Schoß, halb verborgen von den Falten der Decken, einen glänzenden silbernen Zylinder liegen – eine Taschenlampe. »Ja?«, sagt sie.
»Nimm.«
Sie tut, was er ihr befohlen hat, und ergreift die Lampe ganz behutsam, um weder ihn noch die Decken zu berühren. Das Metall ist eiskalt, und die Taschenlampe selbst ist zwar klein, aber erstaunlich schwer. Sie schaltet sie an und richtet das Licht auf den Boden – auf ihre Schuhe, den breiten Weg, das am Betonpflaster klebende Herbstlaub.
Bernard nimmt seine lebendige Hand, um die Kunststoffhand einige Zentimeter nach links zu schieben und sein Gesicht stärker zu entblößen. Alice versteht, was er von ihr will, und hebt langsam den Strahl der Lampe, bis er direkt auf ihn fällt.
Er hat ein Auge, und seine Nase besteht nur aus zwei Schlitzen, ohne aus dem Gesicht herauszuragen. Sein Kinn ist lang und endet in einer Spitze, und sein Mund ist grässlich klein. Die Haut sieht aus, als wäre sie verbrannt, dann geheilt und schließlich erneut verbrannt. Eines der Ohren ist sichtbar; es scheint nicht größer zu sein als eine Geldmünze, und es ist mit Haaren bedeckt … oder ist das Fell?
»Oh«, sagt Alice mit einer Stimme voller Mitleid. Eigentlich hatte sie gar nichts sagen wollen, aber es ist ihr entglitten, und jetzt sagt sie es noch einmal.
»Pech, was?«, sagt Bernard. »Ich Armer.« Er blickt auf seinen Computerbildschirm, runzelt die Stirn, tippt auf ein paar Tasten. Seine Bewegungen sind flink und entschieden.
Alice bemerkt noch etwas anderes an seiner lebendigen Hand. Ein Muttermal. Einen roten Schnörkel, genau wie sie ihn hat und Adam auch.
»Schau«, sagt sie und streckt ihm die Hand hin.
Einer der Skater löst sich aus dem Rudel. Offenbar hat er Alice’ Anwesenheit bemerkt und rollt nun geräuschvoll auf die beiden zu. Auf halber Strecke hält er an, steigt ab und tritt scharf auf ein Ende seines Boards, das in die Luft springt. Er fängt es auf und geht weiter, nachdem er es sich wie ein Gewehr über die Schulter gelegt hat. Er ist groß gewachsen, langgliedrig und etwa fünfzehn Jahre alt, und er sieht vernachlässigt aus. Seine Kleider sind schmutzig und wären selbst für einen kühlen Septembertag ungeeignet, von dieser kalten Novembernacht ganz zu schweigen. Seine Haare sind lang und verfilzt, und er bringt einen Geruch von Wind, Regen, Rauch und schlechtem Essen mit. Instinktiv weicht Alice zurück. Sie spürt, wie ihre Schultern sich heben und wie ihre Finger sich anspannen und biegen, als wollten sie ihn kratzen, wenn er eine bedrohliche Bewegung macht.
»Hey, Bernard«, sagt der Junge.
»Hi«, erwidert Bernard. In seiner Stimme liegen Freundlichkeit und Respekt. »Ihr seid ganz schön in Fahrt.«
»Beim Skaten geht’s nicht bloß um Sprünge, alter Freund. Na?« Er deutet mit schief gelegtem Kopf auf Alice.
»Du bist der Beste.«
»Nett, dass du das sagst, Bernard. Hey, weiß deine Mutter eigentlich, wo du bist?«
»Vielleicht.«
»Tja«, sagt der Junge und verlagert sein Skateboard von der einen Schulter auf die andere, »wahrscheinlich weiß sie es. Das haben Mütter so an sich, dass sie alles wissen.« Er wendet sich Alice zu. »Wie alt bist du?«, fragt er.
»Bald elf«, sagt Alice. »Mach mich bloß nicht an.«
»Elf?« Er schnuppert geräuschvoll. »Kein Wunder.«
»Wieso?«
»Ich glaube, du bist eine von uns, aber wenn du erst elf bist …« Er lacht. »Dann weißt du noch nicht mal Bescheid. Zuerst musst du bluten.«
»Hör auf, das ist eklig.«
»Du
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