Breed: Roman (German Edition)
die abgerundete Betoneinfassung des Wegs verwenden sie für die Räder ihrer Boards, während sie ihre beharrliche Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und dem gesunden Menschenverstand führen. Es sind zehn Kids, groß und klein, mager und dick. Obwohl Alice keinen von ihnen kennt und von Natur aus schüchtern ist, geht sie auf die zehn zu – alles kommt ihr jetzt besser vor als Einsamkeit. Sie stellt sich oben auf die Treppe neben ein abgestorbenes Geißblatt mit ein paar weißen festgefrorenen Blüten. Der Geruch von Pferdemist liegt in der Luft, und man hört das Getrappel einer Pferdekutsche. Der Kutscher trägt einen Zylinder, die Fahrgäste kauern sich unter schwere Decken und versuchen, das Beste aus der Fahrt zu machen. Als die Kutsche näher rollt, hebt das Pferd, ein Apfelschimmel, den Kopf. Es bläht die riesigen Nüstern, und es wiehert, ein hoher, irrer Ton.
Die Kids auf den Skateboards sind anders als alle anderen Teenager, die Alice je gesehen hat. Ihre Sprünge sind wild und gewagt, und fast jeder endet mit einem Sturz. Sie vollführen katastrophale Saltos, schlittern hautschürfend über den Beton, kommen mit dumpfen Schlägen, bei denen eigentlich Knochen brechen müssten, auf dem Boden auf – und trotzdem scheint keiner von ihnen sich zu verletzen. Oder ist es so, dass sie sich alle weigern, sich ihre Verletzungen anmerken zu lassen? Einige von ihnen scheinen fast zu fliegen; sie halten sich am Rand ihrer Bretter fest, während sie in die Hocke gehen, sie heulen vor Begeisterung, während sie steigen und fallen.
Alice schlägt angstvoll das Herz, weil sie von den Skatern derart angezogen wird. Ihr Bedürfnis, bei anderen zu sein, ist fast eine Manie; sie sehnt sich so heftig nach Kontakt, als wäre die Einsamkeit ein Meer, das sie für immer verschlingen könnte.
Adam! Wo bist du?
Eine lange Reihe Bänke, im Abstand von eineinhalb Metern aufgestellt, flankiert beide Seiten des Wegs. Zwischen zwei der Bänke sieht Alice etwas, was sie zuerst als chaotischen Deckenstapel wahrnimmt, sich jedoch beim zweiten Blick als Rollstuhl entpuppt. Ein Kindermodell. Darauf sitzt ein Junge oder ein Mädchen, verhüllt von einem Sammelsurium von Decken, an denen Dreck und trockene Blätter haften. In der Mitte des Objekts glüht ein gespenstisch weißes Licht.
»Komm her«, sagt eine Stimme aus dem Rollstuhl.
Alice ist zu verängstigt, um der Aufforderung zu folgen, und zu verängstigt, um sich abzuwenden.
»Ich tu dir schon nichts«, sagt die Stimme. »Wie sollte ich? Hm?«
»Wer bist du?«
Das Kind im Rollstuhl schweigt. Die Decken bewegen und verlagern sich, dann ertönt ein Summen, als der Motor des Rollstuhls in Gang gesetzt wird, und die Gestalt, die darauf sitzt, rollt langsam auf Alice zu.
Jede Faser ihres Wesens drängt Alice wegzurennen, aber sie zwingt sich stehenzubleiben – sosehr sie auch Angst hat, sie kann es nicht ertragen, die Gefühle von jemandem zu verletzen, der so bedauernswert ist.
Soweit sie es beurteilen kann, sitzt im Rollstuhl ein Junge, der allerdings vom Kopf bis zum Schoß so dick eingehüllt ist, dass sie nur einen kleinen Teil seines Gesichts sehen kann. Das Licht, das in seinem Schoß leuchtet, ist ein Laptop, dessen Deckel mit einem Tarnmuster in Grün, Grau und Schwarz bedeckt ist. Eine kleine Hand greift nach dem schmierigen Saum der Decke, die über dem Kopf des Jungen liegt wie eine Mönchskutte, und bewegt sie ein wenig zur Seite, damit er sprechen kann. Die Finger dieser Hand sind steif. Genauer gesagt, sind sie aus Kunststoff. Die ganze Hand ist aus Kunststoff.
»Ich heiße Bernard«, sagt er. Seine Worte sind undeutlich, verwaschen, schwer zu verstehen.
»Oh«, sagt Alice. Ihr Herz schlägt so heftig, dass alles um sie herum so instabil aussieht wie etwas, das sich in einer Wasserfläche spiegelt.
»Wie heißt du?«, fragt Bernard.
»Alice.«
Schweigen. Atemgeräusche, während der Junge sich sammelt. »
Bon soir
, Alice.«
»Du sprichst ja Französisch.«
»Mutter aus Kanada hat mir was beigebracht.«
Alice verkneift es sich, ihn zu bitten, er solle wiederholen, was er gerade gesagt hat. Indem sie die Worte für sich wiederholt, kann sie sie entziffern. Wenn ein Zementmischer sprechen könnte, würde er sich so anhören wie dieser Junge …
»Ist dir kalt?«, fragt sie mit einem Blick auf die vielen Decken, in die er sich gehüllt hat.
»Komm näher«, sagt er.
»Wieso?«
»Näher.«
Sie begreift, dass er womöglich gar nicht in der Lage ist,
Weitere Kostenlose Bücher