Breed: Roman (German Edition)
bist noch ein Kind«, sagt er. »Deine Zeit wird kommen, und das wird geil werden. Bist du schon nahe dran?«
»Wovon redest du da überhaupt?« Alice sieht sich nervös um und überlegt, wohin sie rennen wird, wenn dieser Junge ihr noch mehr Angst macht.
»Unten«, sagt er und tippt auf seinen Hosenschlitz. »Oder oben«, fügt er hinzu und schlägt sich an die Brust. Er sieht den Ausdruck auf Alice’ Gesicht. »Hab keine Angst«, sagt er. »Ich frage bloß. Aber wenn es so weit ist, wirst du es definitiv kapieren, wart nur ab.« Mit einem komplexen Bewegungsablauf, der an einen Kadetten beim Exerzieren erinnert, nimmt er sein Skateboard von der Schulter, platziert es auf dem Pflaster, steigt auf und rollt neben Alice.
»Die ist in Ordnung, Bruder«, sagt Bernard.
»Was tust du hier eigentlich?«, fragt der Junge mit einer Stimme, die jetzt weniger harsch klingt. »Bist du weggelaufen?«
»Mein Dad kommt mich gleich holen«, sagt Alice.
»Na klar.«
»Doch, ehrlich.«
Der Junge blickt Alice tief in die Augen, wobei er seine Augen zusammenkneift und die Stirn runzelt wie ein Anwalt, der das Kleingedruckte eines Vertrags studiert. »Du hast brutale Angst vor deinem Vater.«
»Nein, hab ich nicht.«
»Und vor deiner Mutter auch, stimmt’s?«
»Du kennst meine Eltern doch gar nicht.«
»Vielleicht nicht und vielleicht doch. Aber eines kann ich dir über sie sagen – die sind ganz schön haarig, oder etwa nicht?«
Alice hat keine Willenskraft mehr, weiter zu widersprechen. Sie senkt den Blick und schüttelt den Kopf.
»Eli, Nell, Oliver, Djuna.« Der Junge zählt die Namen an seinen Fingern ab. »Chelsea, Kim.« Er endet mit einem Achselzucken. »Eigentlich bin ich noch zu jung, um so viele tote Freunde zu haben.«
»Hm.«
»Weißt du, was mit denen passiert ist?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Du kannst es bestimmt erraten, wenn du darüber nachdenkst.«
Aber Alice will nicht darüber nachdenken. Sie schüttelt wieder den Kopf.
»Los, denk nach!«
»Ich kenne dich doch gar nicht«, bringt Alice heraus.
»Ihre verfluchten Eltern haben sie umgebracht.«
»Ach, komm.«
»Das stimmt. Frag Eli, Nell, Oliver oder Djuna. Frag Chelsea. Die war erst sechs. Frag Kim. Den haben wir vor zwei Wochen verloren.« Er greift in seine Gesäßtasche und zieht das zerknitterte Foto eines Jungen mit gebräunter Haut und langem, weichem Haar heraus, der Jeans und ein blau-weißes Sweatshirt mit dem Aufdruck
I
♥
SLOVENIA
trägt.
»Ist er das?«, fragt Alice mit zitternder Stimme.
Der Junge steckt das Foto wieder in seine Tasche und zieht ein Handy heraus, das er aufklappt wie ein Messer. Er tritt einen Schritt zurück und macht ein Foto von Alice. »Falls du auch verschwindest«, sagt er.
»Kann ich mal dein Handy benutzen?«
»Hast du was zu essen?«, fragt er.
»Ich laufe doch nicht mit was zu essen durch die Gegend.«
»Ich heiße Richard, aber alle nennen mich Rodolfo.«
»Ich bin Alice.«
»Hast du irgendwelches Geld, Alice?«
»Nein.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich. Kann ich dein Handy benutzen?«
Rodolfo schweigt einige Augenblicke. Schließlich klopft er Alice auf die Schulter. »Hungrig? Komm mit, wir zeigen dir, wie man was zu futtern besorgt. Jagst du gern?«
Er wendet sich Bernard zu. »Fahr nach Hause, Bernard. Deine Mom ist eine nette Frau, und wenn sie aufwacht und sieht, dass du nicht da bist, flippt sie aus.«
»Was ist mit deinem Handy?«, fragt Alice.
»Meine Eltern haben schon vor einem Jahr meinen Vertrag gekündigt«, sagt Rodolfo.
Michael tastet nach seiner Armbanduhr, die er auf den Couchtisch gelegt hat. Einen Moment meint er, es sei irgendwie zehn nach sechs, bis er die Uhr richtig dreht und sieht, dass es zwanzig Minuten vor eins ist, was mehr Sinn ergibt. Aber trotzdem: Wer kann um diese Zeit an der Tür läuten?
Er beschließt, nicht zu reagieren, zumindest nicht sofort. Schließlich könnte es einer seiner Nachbarn sein, der sich geirrt hat, oder irgendein dämlicher Jugendlicher, der im Foyer Blödsinn macht. Er setzt sich auf, lehnt sich an die Armlehne des Sofas und wartet. Einige Momente gehen vorüber, und er will schon wieder versuchen einzuschlafen, als das Telefon läutet. Erschrocken nimmt Michael sofort ab.
»Ist spät, ich wissen«, sagt Rosalie, Xaviers Schwester. »Aber ich warten auf Xavier, und er nicht da.«
»Er ist nicht da?«
»Nein. Ich warten.«
»Verdammte Scheiße.«
»Ja, ich auch, verdammte Scheiße.«
Wieder ertönt der Türsummer,
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