Brenda Joyce
Vermutlich war Evan schon bald nicht mehr der einzige
Angetrunkene unter den Anwesenden.
»Wo hast du denn nur gesteckt?«, fragte sie ihren Bruder
vorwurfsvoll.
Er grinste. »Ach, meine liebe, neugierige Fran! Es würde dir nicht
gefallen, wenn ich dir die Wahrheit sagte, also solltest du meine kleine
Notlüge entschuldigen. Ich bin in meinem Club gewesen.«
Francesca musste unwillkürlich an jene
hinreißende Rothaarige denken, mit der sie Evan im letzten Sommer gesehen
hatte. »Du willst damit doch wohl nicht sagen ...«, begann sie, ohne die Frage
auszusprechen.
»Schscht!«, machte er und umarmte sie kurz.
»Ich bin hier, ganz der pflichtbewusste Sohn. Und da ich so überaus
pflichtbewusst bin, werde ich jetzt mit meiner Herzallerliebsten tanzen.«
Die Art und Weise, wie er sprach, tat
Francesca weh, und sie blickte ihm traurig nach. Zumindest hatte er sich dem Anlass
angemessen gekleidet. Doch sie fragte sich, ob dieser Abend wohl angenehm enden
würde. Bei dem Gedanken beschlich sie ein ungutes Gefühl, das sich einfach
nicht abschütteln ließ.
Francesca seufzte. Warum war es ihr nicht vergönnt, nach all der
Aufregung und Tragik der vergangenen Woche einen unbeschwerten, fröhlichen
Abend zu verbringen?
Sie sah, wie ihr Bruder vor Sarah stehen blieb, die inmitten einer
Gruppe von jungen Frauen stand und der angeregten Unterhaltung um sie herum
lauschte. Sarah wandte sich Evan zu, der sich über ihre Hand beugte und sie
galant küsste. Schon einen Augenblick später drehten sich die beiden auf der
Tanzfläche.
Als Francesca bemerkte, dass sie unwillkürlich
die Finger hinter ihrem Rücken gekreuzt hatte, atmete sie
tief ein und wurde langsam etwas ruhiger. Evan mochte furchtbar wütend auf
seinen Vater sein, aber er hätte seine Wut nie an Sarah ausgelassen. Falls sie
heiraten sollten – nein, wenn sie verheiratet waren, verbesserte sich Francesca
selbst in Gedanken –, würde er nett zu ihr sein, da war sie sich ganz sicher.
Während sie die Paare auf der Tanzfläche beobachtete, begegnete
ihr Blick plötzlich dem ihres Schwagers, und sie erstarrte. Montrose, der
gerade mit drei anderen Herren plauderte, sah sofort weg und kehrte ihr den
Rücken zu. Der Affront war offensichtlich.
Francesca starrte auf seine breiten
Schultern, und ihr Herz begann heftig zu klopfen. Was sollte sie tun? Ihre
Beziehung zu Montrose war sehr schwierig geworden. Sie bedauerte es beinahe,
ihn wegen seiner Affäre mit Eliza zur Rede gestellt zu haben. Bei dem Gedanken
verzog Francesca unwillkürlich das Gesicht und rief sich in Erinnerung, dass
schließlich nicht sie diejenige war, die eine Schuld auf sich geladen hatte –
er war es, der den Ehebruch begangen hatte. Aber sie konnte nicht leugnen,
dass sie ihn für kurze Zeit auch fälschlicherweise verdächtigt hatte, Jonny
Burton entführt zu haben. Das war ein schrecklicher Fauxpas gewesen.
Montrose verließ die Gruppe der Gentlemen und
stand für einen Moment allein inmitten der fröhlichen, festlich gestimmten
Menge, die um ihn herumwirbelte. Francesca fragte sich, warum Connie wohl
nicht bei ihm war, und blickte sich suchend im Raum um. Ihre Schwester stand
einige Schritte entfernt und unterhielt sich mit anderen Gästen, blickte
aber immer wieder zu ihrem Mann hinüber. Francesca sah ihrer Schwester an,
dass irgendetwas nicht stimmte – sie kam ihr ängstlich und besorgt vor.
Francesca nahm all ihren Mut zusammen und
trat auf Montrose zu. Immerhin war dieser Mann seit vier Jahren ihr Schwager,
der liebevolle Vater ihrer Nichten.
»Neil?«, sagte sie leise.
Er drehte sich zögernd um. Ohne zu lächeln verbeugte er sich vor
ihr. »Guten Abend, Francesca.«
»Guten Abend.« Francesca war so nervös, dass es ihr schwer fiel,
die Hände stillzuhalten. Immer wieder schlichen sich die Bilder von ihm und
Eliza in ihren Kopf. »Könnten wir ... uns unterhalten?«
Er warf ihr einen forschenden Blick zu.
»Gewiss.« Francesca versteifte sich unwillkürlich, als er ihre Taille umfasste
und sie durch die Menge führte. Es gefiel ihr gar nicht, dass er sie berührte,
aber noch unangenehmer war ihr, dass sie seine große Hand an ihrer Taille so
bewusst wahrnahm. Als sie den Ballsaal verließen, kam ihnen Bragg entgegen, und
ihre Blicke kreuzten sich.
Montrose nickte Bragg zu. »Guten Abend, Commissioner. Ich
gratuliere, dass Sie diesen Fall so hervorragend aufgeklärt haben.« Seine
Stimme war ruhig. Jegliche Animosität, die er gegen den Polizeipräsidenten
hegen
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