Brenda Joyce
Erde
getilgt gehört. Wenn er aufgehört hat, meine Schwester zu terrorisieren, wird
er sich ein neues Opfer suchen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie
ängstlich.
»Ich will sagen, ein anderer Polizist würde ein Auge zudrücken und
Calder das Problem lösen lassen. Jemand anders an meiner Stelle würde etwaige
unschöne Erkenntnisse unter den Teppich kehren, die Akten schließen und den
Fall als erledigt betrachten.« Er wandte sich zu ihr um und blickte sie aus
seinen goldenen Augen ernst an. »Aber ich wäre nicht ich, wenn ich das täte«,
fügte er hinzu.
»Ich weiß«, hauchte sie erschüttert. Erst in diesem Moment begriff
sie mit Entsetzen das volle Ausmaß seines persönlichen und dienstlichen
Dilemmas. »Was werden Sie tun?«
»Ich weiß es nicht«, gestand er.
Sie starrte ihn an.
»Mein Schwager hat eine Vergangenheit. Eine kriminelle Vergangenheit«,
fuhr er fort. »Meine Schwester ist glücklich, sie liebt ihren Mann. Ich könnte
es mir niemals verzeihen, wenn ich ihre Ehe zerstörte, ihr Leben, ihr Glück.«
»O Gott«, flüsterte Francesca. Geistesabwesend hob sie Dot auf den
Arm, die kreischte und mit breiverschmierten Fingern nach ihr grabschte.
»Bragg? Shoz muss erfahren, was da im Gange ist. Er hat ein Recht darauf, es zu
wissen! Wir müssen mit ihm sprechen – er kann uns sagen, was Craddock weiß.
Aber uns bleibt keine Zeit!«
Bragg
seufzte. »Kommen Sie mit«, forderte er Francesca auf.
Neugierig
folgte sie ihm aus der Küche durch die Eingangshalle ins Arbeitszimmer. Er nahm
etwas von seinem Schreibtisch – offenbar ein Telegramm. »Was ist das?« Sie
setzte Dot ab.
»Eine
Nachricht von dem Gefängnisdirektor in Kendall. Er war sehr kooperativ«,
erklärte Bragg. »Dot, nicht, das ist heiß!« Er zog die Kleine hastig vom Kamin
fort, in dem die Asche noch glühte. Dot strahlte ihn an.
»Aber ich habe ihm gestern ein Telegramm geschickt!«, rief
Francesca aus, während er Dot losließ. Sie tapste fröhlich davon. Nach wenigen
Schritten plumpste sie zu Boden, doch sie rappelte sich unverdrossen wieder
hoch und tapste munter vor sich hin plappernd weiter.
»Ich habe bereits am Samstag nach Fort Kendall telegrafiert,
gleich nachdem ich Craddocks Akte gelesen hatte«, sagte Bragg. Sie hielten
beide ein Auge auf das Kind.
Francesca befürchtete das Schlimmste. »Was
schreibt er?«
»Er erwartet mich morgen Abend persönlich am Bahnhof in der Nähe
von Kendall.«
Begeisterung überkam sie. »Sie meinen wohl, er erwartet um!«
»Francesca ...«
Sie hängte sich an seinen Arm. »Ich komme mit. Überhaupt arbeiten
wir als Team am besten, das haben Sie selbst gesagt.« Gleich darauf ließ sie
ihn wieder los und erkundigte sich gespannt: »Um welche Uhrzeit fahren wir
los?«
Bragg zögerte. »Mittags.«
Sie war
bereits zur Tür hinaus.
MONTAG, 17. FEBRUAR 1902 – 11 UHR
Neil
schüttelte dem Gentleman, mit dem er an diesem Morgen geschäftliche
Angelegenheiten besprochen hatte, lächelnd die Hand. Doch sobald der andere zur
Tür hinaus war und diese sich hinter ihm geschlossen hatte, erstarb Neils
Lächeln. Er stand in seiner Eingangshalle, allein bis auf den Bediensteten, und
sein Haus, obwohl voller Menschen, kam ihm gespenstisch leer vor.
Eine düstere Wolke senkte sich über ihn wie ein schwerer, triefend
nasser Mantel. Ein ebenso unbehagliches wie ungewohntes Gefühl, doch sosehr er
auch versuchte, es abzuschütteln – es hielt an.
Er durchquerte ein geräumiges Esszimmer, in dem mitunter sechzehn
oder sogar achtzehn Personen am Tisch gesessen hatten, der dazu nur an der
einen oder anderen Stelle verlängert werden musste. Für größere Gesellschaften
wurde der Tisch hinausgetragen, und man stellte stattdessen zahlreiche runde
Tische auf, die mit elfenbeinfarbenen Damasttüchern, Silber und Kristall
gedeckt wurden. In diesem Augenblick sah Neil vor sich, wie der Raum an einem
solchen festlichen Abend ausgesehen hatte. Seine Frau besaß ein herausragendes
Geschick für Dekorationen und war eine brillante Gastgeberin. Jeden einzelnen
Tisch zierte ein außergewöhnliches Blumengesteck, die Sitzordnung war so
gewählt, dass die Konversation nie zum Erliegen
kam, und Connie war unermüdlich auf den Beinen, ohne zwischendurch auch nur zum
Essen Platz zu nehmen. Sie eilte von einem Tisch zum anderen, bot in jedem
ihrer Abendkleider einen umwerfenden Anblick, den ganzen Abend lang stets
lächelnd, heiter, voller Liebe – Liebe zu ihm.
Die Szene löste sich vor seinen
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