Brenda Joyce
Augen in nichts auf. Erschüttert
stand er da – das Bild war so wirklich gewesen.
Die Düsternis kehrte zurück, diesmal noch bedrückender. Er wagte
nicht darüber nachzudenken, wann sie zuletzt einen solch herrlichen Abend
genossen hatten. Doch die Antwort drängte sich ihm auf: Es war vor seiner
verwünschten, unbedachten Affäre mit Eliza Burton gewesen.
Neil bereute jeden Moment, den er jemals damit zugebracht hatte,
an die andere Frau zu denken, ganz zu schweigen von jenen Momenten, in denen er
in ihren Armen gelegen hatte. Für diesen Fehltritt gab es einfach keine
Entschuldigung. Keine. Er hätte seiner Frau treu bleiben müssen. Er hatte sich
nicht genügend angestrengt.
Unglücklicherweise lag seiner Frau nicht wirklich etwas an körperlicher
Liebe. Nicht dass sie ihn zurückwies – keineswegs, aber er wusste dennoch, dass
sie diesen Teil ihrer Beziehung am liebsten ausgeklammert hätte. Und er selbst
hatte sich so sehr bemüht, ihn ebenfalls auszuklammern.
Vor der Ehe war allerdings keine Nacht vergangen, ohne dass er mit
einer Frau zusammen war. Er war nun einmal ein sehr viriler Mann.
Er betrat die Küche, was er wohl noch nie
zuvor in seinem Leben getan hatte – weder hier in seinem Wohnsitz in Amerika
noch in einem seiner Häuser in Großbritannien. Auf der Türschwelle blieb er
überrascht stehen.
Drinnen befanden sich Dutzende Menschen. Es
herrschte ein erstaunlicher Geräuschpegel – alle plauderten
fröhlich, und dazwischen sang eine Frau ein irisches Lied. Ein Messer klopfte
auf einen Hackklotz, Töpfe und Pfannen schepperten. Von irgendwoher vernahm
Neil das Lachen seiner Tochter Charlotte. Als er sich umblickte, entdeckte er
sie an einem Kiefernholztisch in der Mitte des Raumes, wo sie einer Küchenhilfe
beim Teiganrühren zur Hand ging. Charlotte aß ebenso eifrig von dem Teig, wie
sie ihn rührte. Bei dem Anblick brach es ihm schier das Herz.
Sie war das Ebenbild seiner Frau. Charlotte
war das schönste Kind, das er je gesehen hatte, ebenso wie Connie die schönste
Frau war.
Die Unterhaltung verstummte. Das Hacken des
Messers stockte. Noch ein paar Töpfe klapperten, dann herrschte völlige
Stille.
Dutzende Augenpaare richteten sich auf ihn, allesamt erstaunt
aufgerissen.
Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf
schoss. Ehe er etwas sagen konnte, hatte Charlotte ihn bemerkt und kreischte:
»Papa!« Schneller, als Mrs Partridge einschreiten konnte, sprang sie von ihrem
Schemel herunter – zu seiner Überraschung, ohne dabei zu stürzen – und rannte
ihm auf ihren pummeligen Beinchen entgegen. Er schloss sie in die Arme und hob
sie hoch. »Hallo, Schätzchen«, begrüßte er sie, während er sie fest an die
Brust drückte.
»Papa, ich backe einen Kuchen. Einen Apfelkuchen, den gibt es
heute Abend zum Nachtisch«, verkündete sie.
»Mir wird jeder Bissen davon köstlich
schmecken«, versicherte er.
Charlottes Lächeln verschwand. »Ich mache ihn für Mama«, sagte
sie.
Er erstarrte und fürchtete sich vor dem, was seine Tochter als
Nächstes sagen könnte.
Doch sie fügte nur heiter hinzu: »Mama wird sich freuen, und er
wird ihr sehr gut schmecken.«
Ihre Worte versetzten seinem
Herzen einen schmerzhaften Stich.
»Natürlich wird sie sich freuen«, bestätigte er sanft und setzte
Charlotte ab. Dann blickte er zu Mrs Partridge auf. Bis vor kurzem hatte er der
Kinderfrau seiner Töchter nie besondere Beachtung geschenkt. Nun schien sie
plötzlich so etwas wie eine Vertraute zu sein.
Allerdings war die Angelegenheit, um die es hier ging, ausgesprochen
persönlich. »Wo ist Lady Montrose?«, erkundigte er sich leise.
»Sie bleibt in ihren Räumlichkeiten, Mylord«, erwiderte die
hochgewachsene, hagere Frau.
Wie er vermutet hatte. Er starrte die Kinderfrau nachdenklich an,
und sie erwiderte seinen Blick. Ihre Gedanken schienen zu verschmelzen. Warum tat Connie das? Es wurde mit
jedem Tag schlimmer. Die Frau, die er geheiratet hatte, war stets um
sechs Uhr früh mit den Kindern auf den Beinen gewesen. Diese Frau besaß mehr Energie als zehn andere Frauen zusammen.
Niemals wäre sie plötzlich mit jedem Tag länger im Bett geblieben. Wer war die
Frau dort oben, die nicht mehr ausgehen mochte, keine Partys mehr besuchen und
keine Freunde mehr empfangen?
Die ihren Mann nicht mehr liebte, ihre Familie, ihr Leben? »Soll
ich hinaufgehen und fragen, ob sie irgendetwas braucht?«, bot Mrs Partridge
behutsam an.
»Nein. Lassen Sie ihr das Frühstück nach oben bringen.«
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