Brenda Joyce
Seine
Gedanken arbeiteten fieberhaft. Connie hatte in letzter Zeit kaum etwas
gegessen – er sah ihr an, dass sie an Gewicht verloren hatte. Ihr Gesicht
wirkte bereits richtig ausgemergelt. »Ein Omelett, bitte, und Tee und Toast wie
immer.«
»Papa?« Charlotte zupfte ihn an der Hand. »Ich will Mama auch
sehen.«
Er zögerte.
»Ein anderes Mal, Liebes.«
Charlottes Augen wurden groß, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck,
wurde entschlossen und trotzig. In solchen Momenten erinnerte sie Neil nicht
an ihre Mutter, sondern an deren Schwester Francesca. »Nein! Ich will Mama
sehen, Papa! Ich will zu Mama.« Plötzlich füllten sich die großen blauen Augen
mit Tränen. »Mama spielt überhaupt nicht mehr mit mir! Und mit Lucinda auch
nicht! Ich will zu Mama!« Sie stampfte kräftig mit ihrem kleinen Fuß auf.
Nachzugeben wäre so einfach gewesen. Er hob das Mädchen auf die
Arme, warf Mrs Partridge einen bedeutungsvollen Blick zu und verließ die Küche.
Die Kinderfrau verstand und folgte ihm. »Du darfst Mama besuchen, wenn sie
gefrühstückt hat. Zuerst möchte ich allein mit ihr sprechen.«
Charlotte zögerte und überlegte offenbar, ob sie sich auf diesen
Kompromiss einlassen sollte. Schließlich lächelte sie ein wenig und nickte.
»Bekomme ich auch ein Frühstück? Ich möchte ein Omelett.«
»Hast du denn nicht schon
gegessen?«, erkundigte er sich.
Sie nickte.
»Darm musst du Mrs Partridge fragen«, entschied er. Während die
beiden um ein zweites Frühstück zu verhandeln begannen, stieg er die Treppe
hinauf. Mit jeder Stufe senkte sich die dunkle Wolke unaufhaltsam tiefer über
ihn. Vor Connies verschlossener Tür blieb er stehen und lauschte angestrengt,
doch aus ihrer Suite war kein Laut zu hören.
Er
zögerte, dann klopfte er an. Keine Antwort.
Neil klopfte erneut, diesmal energischer. Nach längerem Warten
griff er nach dem Türknopf. Gerade als er ihn drehte, ertönte von drinnen ihre
Stimme: »Wer ist da?«
Er erstarrte. »Ich bin es, Connie.«
Sie zögerte. »Einen Moment, Neil.«
Als er das hörte, überkam ihn ein seltsames Unbehagen, und ohne
länger nachzudenken, stieß er die Tür auf. Der Raum lag in völliger Dunkelheit.
Er blinzelte, dann sah er seine Frau vor den geschlossenen Vorhängen
stehen, offenbar im Begriff, sie zu öffnen. Sie trug ihr Nachthemd, hatte die
Kordel bereits in der Hand und blickte ihn über die Schulter an. Keine einzige
Lampe brannte.
Im nächsten Moment erwachte sie zum Leben, zog die Vorhänge auf,
und Sonnenlicht flutete in den Raum. »Ich hatte dich gebeten zu warten«, sagte
sie ruhig, während sie zum nächsten Fenster ging und auch dort die Vorhänge
aufzog.
Er erwiderte nichts, sondern schritt zu der geschlossenen Tür, die
ins angrenzende Schlafzimmer führte, und öffnete sie. Auch in diesem Zimmer war
es stockdunkel.
»Neil?« Ihre Stimme klang steif.
Er tastete nach einer Lampe und schaltete sie ein. Das Himmelbett
war zerwühlt – offenbar hatte sie darin geschlafen. Davon abgesehen war das
Zimmer tadellos ordentlich.
»Neil?«
Er zog die schweren Vorhänge aus goldfarbenem
Satin auf. Connies Zimmer war in einem warmen Butterblumengelb gestrichen. Die
Stoffe ihrer Bettpolster waren in verschiedenen Beige-, Gold- und Gelbtönen
gehalten, die Blumenmuster wiesen dunkelrote und terrakottafarbene Akzente
auf. Ähnliche Farben beherrschten das gesamte Zimmer, und der Holzboden war
mit bunten Perserteppichen bedeckt. Es war ein warmes,
freundliches Zimmer, ebenso elegant wie einladend. Das Wohnzimmer war in
demselben Farbschema dekoriert, nur dass die Wände einen dunkleren Goldton
aufwiesen und zahlreiche rote Kissen das Sofa zierten. Neil wandte sich zu
Connie um, die im Wohnzimmer stand und ihn beobachtete. Als er sie anblickte,
setzte sie ein verkrampftes Lächeln auf.
»Bist du gerade erst aufgestanden?«
»Ja. Ich fühle mich heute nicht wohl.«
»Soll ich Dr. Finney rufen?«
»Nein, ich bin sicher, es vergeht von selbst
wieder.«
»Connie.« Er ging auf sie zu. Auch das Wohnzimmer schien in
tadelloser Ordnung, als hätte sich kein Mensch darin aufgehalten. Dabei war
seine Frau nicht übermäßig penibel. Nicht dass sie keinen Wert auf Ordnung
gelegt hätte, doch für gewöhnlich ließ sie da und dort einen Schal auf einem
Stuhl liegen, eine Handtasche auf einem Sekretär oder ein Schmuckstück auf dem
Nachttisch. Außerdem las sie leidenschaftlich gern Romane, sodass fast immer
irgendwo ein Buch und eine Lesebrille
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