Brenda Joyce
drohten. »Echt? Ich hab gedacht, Kaschmir is nur für reiche
Leute!«
»Mir ist kein Gesetz bekannt, das dir verbietet, Kaschmir zu tragen«,
versetzte Francesca schmunzelnd.
Im Gebäude war es ebenso ruhig wie draußen.
Captain Shea, der am Empfangstresen stand, las Zeitung und trank dabei aus
einem Becher dampfend heißen Kaffee. Ein weiterer Officer, den Francesca schon
einmal gesehen hatte, jedoch nicht mit Namen kannte, döste schnarchend auf
einem Stuhl dahinter. Francesca war noch nie an einem Sonntag zu derart früher
Stunde auf dem Polizeirevier gewesen. Niemand, der irgendwelche Beschwerden
vorbringen wollte, keine Raufereien und keine lamentierenden Gauner – selbst
das ständige Klicken des Telegrafen fehlte. Ihr wurde bewusst, dass sie das
Geräusch mittlerweile geradezu mochte.
Als Shea sie bemerkte, ließ er die Zeitung sinken. »Morgen, Miss
Cahill. Was führt Sie denn so früh hierher?« Er war ein schwarzhaariger Bursche
mit ergrauenden Schläfen und einem freundlichen Gesicht. Francesca wusste aus
ihren Gesprächen mit Bragg, dass Shea ein ehrlicher Beamter war. Bragg hatte
eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, ihn zu befördern – und zum
Polizeichef zu ernennen, was ein beispiellos steiler Aufstieg gewesen wäre. Am
Ende hatte er sich jedoch dagegen entschieden, weil er sich eingestehen
musste, dass Shea dem Posten einfach nicht gewachsen war.
»Ich arbeite an einem Fall«, erklärte
Francesca, während sie an den Tresen trat. Genau genommen arbeitete sie an zwei
Fällen – Lucys und Sarahs. Lucys Notlage schien jedoch dringender zu sein,
weshalb sie sich darum zuerst kümmern würde. Sie wollte den Kerl, der sie
bedrängt hatte, schnellstmöglich aus dem Verkehr gezogen wissen, ehe womöglich
jemand ernsthaft zu Schaden kam.
»Das dachte ich mir. He, Tom! Wach auf, du Schlafmütze! Die
Freundin vom Commissioner ist hier.« Er versetzte seinem Kollegen einen Stoß
in die Rippen. An Francesca gewandt, fuhr er fort: »Der Commissioner ist nicht
hier, Miss Cahill. Können wir Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich! Ob es wohl möglich wäre, dass
ich einen Blick in die Schurkensammlung werfe?«, erkundigte sie sich. Gemeint
war die berüchtigte Bildersammlung, die ein noch berüchtigterer – und
korrupterer – Vorgänger Braggs, Thomas Byrnes, angelegt hatte. »Ich fürchte,
ich kann Ihnen keine Gründe nennen, da ich meinen Klienten gegenüber zu
Vertraulichkeit verpflichtet bin, aber Bragg sagte, er hätte nichts dagegen.«
Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu: »Ich habe gestern mit
ihm und seiner Familie zu Abend gegessen.«
»Dann suchen wir doch ein Plätzchen für Sie, wo Sie hübsch ungestört
sind – sagen wir, im Konferenzraum. Da können Sie sich Zeit lassen, so viel Sie
wollen, und die Bilder in aller Ruhe durchsehen.«
Francesca bedankte sich. Als sich Shea abwandte, zwinkerte sie
Joel verstohlen zu. Was für ein Glück, dass sie einen Fall aufzuklären hatte,
sonst hätte sie den Tag womöglich mit düsteren Gedanken im Bett zugebracht.
Wenig später saßen Francesca und Joel an
einem langen Konferenztisch in dem Raum gegenüber dem Büro des Commissioners,
dessen Tür verschlossen war. Die obere Hälfte der Tür bestand aus Milchglas. Francesca
wusste, dass Bragg nicht da war, aber sie ertappte sich dennoch dabei, wie ihr
Blick auf der Tür ruhte, als erwarte sie, dass Bragg jeden Moment herauskäme.
Shea trat ein, die Kladde mit den Verbrecherfotos in den Händen.
»Da haben wir sie«, verkündete er heiter. »Hoffe, das hilft Ihnen weiter. Wenn
Sie was brauchen, rufen Sie einfach.«
Francesca bedankte sich, wartete ab, bis der
Polizist gegangen war, und schlug dann das Buch auf. Joel stand dicht neben
ihr.
»Was ham Sie noch gesagt, wie er aussah?«,
erkundigte sich Joel. Francesca hatte ihm bereits von dem Vorfall berichtet, wobei
sie allerdings einige Details ausgelassen hatte. Unter anderem wusste der
Junge nicht, dass die Frau, die bedrängt wurde, Lucy Savage war, Braggs
Schwester.
»Er ist mittelgroß, aber ziemlich kräftig gebaut. Sein Haar ist
lang und dunkel, seine Augen sind blau. Und er hat eine kleine Narbe auf der
rechten Wange.« Klein, aber hässlich anzusehen.
»Kommt mir nich bekannt vor«, verkündete Joel fröhlich. Er genoss
es ebenfalls, dass es wieder Arbeit für ihn gab. Zu jeder Fotografie war der
Name des Kriminellen angegeben, dazu eine kurze Beschreibung der Verbrechen,
die der- oder diejenige begangen hatte. Es gab
Weitere Kostenlose Bücher