Brenda Joyce
und stieß einen Schrei aus.
»Francesca?« Bragg eilte zu ihr.
Francesca erlaubte ihm, sie in die Höhe zu ziehen. Sie war einfach
zu fassungslos, um reden zu können.
»Was ist denn los?«, fragte Bragg.
Francesca schnappte nach Luft. »Das ... das da ist nicht Miss
Neville ... Bragg! Das ... das ist Grace Conway!«, stammelte sie sichtlich
erschüttert.
»Was?«
»Grace Conway ... die Schauspielerin ... Ich habe sie einmal ...
Bragg! Sie ist die Mätresse meines Bruders!«
Kapitel 2
DIENSTAG, 18. FEBRUAR 1902 – 23:00 UHR
Bragg zog
Francesca zur Seite. »Das ist Grace Conway?«
»Da bin ich mir ganz sicher!«, rief sie mit zitternder Stimme.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihr Bruder Evan war ein gutaussehender,
charmanter Mann und bis vor kurzem als alleiniger männlicher Erbe ihres Vaters
noch ein überaus guter Fang gewesen. Aber dann hatte Andrew ihn wegen seiner
Weigerung, die Verlobung mit Sarah Channing – die er weder liebte noch
besonders mochte – aufrechtzuerhalten, enterbt. Andrew hatte ihn mit der Drohung,
ansonsten nicht für seine Spielschulden aufzukommen, ohnehin zuvor zu der
Verlobung gezwungen. Francescas Vater und Evan hatten einen schrecklichen
Streit gehabt, woraufhin ihr Bruder verkündete, die Firma verlassen und
ausziehen zu wollen. Leider war er am nächsten Tag in einer – wie er behauptete
– Schankstubenschlägerei ganz furchtbar zusammengeschlagen worden.
Evan hatte schon eine ganze Weile eine
Liebesbeziehung zu der schönen Schauspielerin unterhalten und Francesca war den
beiden einmal zufällig auf dem Broadway begegnet. Miss Conway war keine Frau,
die man leicht wieder vergaß. Sie war wunderschön und besaß eine Ausstrahlung,
die alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Aber das hier ist die Wohnung von Melinda
Neville. Miss Conway trägt keine persönlichen Papiere
oder Visitenkarten bei sich. Warten Sie hier, Francesca«, sagte Bragg mit
fester Stimme, und er hatte den Satz noch nicht ganz ausgesprochen, da war er
schon zur Wohnungstür hinaus.
Francesca musste sich setzen, aber es gab keine andere Möglichkeit
als das beschmutzte Sofa. Sie wollte hier nichts anfassen. Meine Güte,
passierte das alles wirklich?
»Ich hab sie mal in 'nem Vaudeville-Theater
gesehen!«, sagte Joel mit gedämpfter Stimme, die vor Aufregung bebte. »Mit Mom
und Paddy und Matt. Das ist sie doch, oder? Brat mir einer 'nen Storch! Da hat
wer Grace Conway abgemurkst!«
Francesca fiel das Atmen schwer. Der arme
Evan! Graces Tod würde ihm sicher nahegehen, auch wenn die Beziehung zu ihr in
den letzten Wochen ein wenig abgekühlt war, da er sich kürzlich in Sarahs
Cousine, die verwitwete Gräfin Bartolla Benevente, vernarrt hatte. Vielleicht
war Grace schon gar nicht mehr seine Mätresse gewesen. Francesca schlang sich
die Arme um den Leib. Die arme Miss Conway! Sie schloss die Augen. Zuerst Sarah
Channing, Evans Verlobte, und jetzt seine Mätresse.
Bragg kehrte mit einem großen, beleibten Mann zurück, der einen
dichten Bart trug. Er befand sich in den mittleren Lebensjahren und wirkte
ausgesprochen erschüttert. »Bitte, Mr. Bennett, das hier ist von sehr großer
Wichtigkeit. Sie müssen sich das Opfer genau ansehen.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Mr. Bennett stand kurz davor,
in Tränen auszubrechen.
»Gewiss können Sie das«, sagte Bragg mit sanfter Stimme, wobei er
seinen festen Griff um den Arm des korpulenten Gentleman nicht einen Augenblick
lang lockerte und diesen um die Leiche herum zu der Stelle führte, wo Francesca
gerade noch gestanden hatte.
Bennett stieß einen Schrei aus. »Großer Gott! Das ist nicht Miss
Neville! Das ist unsere Nachbarin, Miss Conway! Sie wohnt auf der anderen Seite
des Flurs in Nummer vier!«, rief er.
»Ich danke Ihnen«, sagte Bragg mit ernster
Stimme. »Haben Sie eine Ahnung, wann Miss Neville zurückkehren wird?«
Bennett schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Hängebacken
schlackerten.
»Sie dürfen gehen«, erklärte Bragg und Bennett flüchtete beinahe
aus der Wohnung, ganz so, als befürchte er das nächste Opfer des Mörders zu
sein.
Francesca straffte die Schultern. »Vielleicht hat Miss Conway die
Tür offen stehen sehen, genau wie Mr. Bennett. Vielleicht hat sie den Angreifer
überrascht und der brachte sie daraufhin um.«
»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte
Bragg grimmig. Sein Gesicht trug einen harten Ausdruck und er wirkte sehr
nachdenklich. »Das Atelier der Verlobten Ihres Bruders wurde letzte
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