Brenda Joyce
das letzte Mal mit deinem Vater getroffen?«
»Vor diesem Abend? Noch nie. Er ist auf mich zugekommen, und ich
muss zugeben, dass ich ein wenig neugierig war.« In Wahrheit war es mehr als
Neugierde gewesen – lächerlicherweise hatte sich der kleine Junge in ihm
unglaublich darauf gefreut, sich mit seinem Vater zu treffen –, wenn auch nur
für ein simples Abendessen. Bis dann der wahre Grund für die Einladung ans
Licht gekommen war.
»Was hat er denn gewollt?«, fragte Bragg. »Hat er es plötzlich
bedauert, dass er nie Interesse gezeigt hat, dich besser kennen zu lernen?«
»Er wollte Geld. Ich habe abgelehnt.« Hart zuckte mit den
Schultern.
»Einfach so?«
»Einfach so. Es war sogar recht unterhaltsam, ihn so zu Kreuze
kriechen zu sehen.«
Bragg straffte die Schultern. »Ich dachte, du hättest dich inzwischen
vielleicht ein bisschen geändert. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall.
Du warst als Junge schon grausam und schwierig und bist es immer noch. Ist dir
noch nie in den Sinn gekommen, dass es langsam an der Zeit ist, erwachsen zu
werden?«
Hart schob sein Gesicht nach vorn, bis seine Nasenspitze beinahe
die von Bragg berührte. »Maß dir bloß nicht an, über mich zu urteilen. Du bist doch
nichts weiter als ein Meister der Verdrängung, der seine Gefühle unterdrückt,
um den Moralvorstellungen der Gesellschaft zu entsprechen. Und alles nur, um
Rathe und Grace zu gefallen. Was für ein Heuchler du doch bist! Ich bin
wenigstens ehrlich. Ich habe Randall gehasst. Ich lebe für die Lust und das
Vergnügen. Was sich übrigens hervorragend mit Geld kaufen lässt, wovon ich ja
reichlich habe. Ich muss mich nicht verstellen!«
»Ach, hör doch auf! Du sehnst dich doch nur
verzweifelt nach Aufmerksamkeit, und deshalb wirst du auch niemals mit diesem
verabscheuungswürdigen Benehmen aufhören. Und bisher hat es ja auch immer
funktioniert!«, rief Bragg. »Mein Vater hat wegen dir graue Haare bekommen,
und Grace hat sich wegen dir nachts in den Schlaf geweint. Du hattest unsere
Aufmerksamkeit rund um die Uhr, bis du mit sechzehn weggelaufen bist, um
Randall zu suchen. Und bis zum Freitagabend ist es dir dank deines
extravaganten und maßlosen Treibens gelungen, beinahe die ganze Stadt auf dich
aufmerksam zu machen. Aber erst der Mord an Randall hat dich wirklich ins
Rampenlicht gerückt. Und wenn du nicht einen so klugen Kopf hättest, wäre ich
geneigt zu glauben, dass dies der Höhepunkt deines verzweifelten Heischens
nach Aufmerksamkeit ist.«
Hart zitterte vor Wut. »Ich dachte, ich hätte
mich klar ausgedrückt. Ich sagte, du sollst dir nicht anmaßen, über mich zu
urteilen.« Er verspürte das Bedürfnis, seinem Bruder die Nase einzuschlagen,
und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. »Dann hör auf, dich wie ein
verzogenes Kind zu benehmen, das ständig sämtliche Regeln bricht. Verzogenen
Kindern zieht man die Ohren lang oder vertrimmt ihnen den Allerwertesten. Aber
leider ist es Lily nie eingefallen, dich zu bestrafen, und jetzt haben wir das
Malheur. Du bist einfach unverbesserlich.«
»Nenne in meiner Gegenwart nie wieder ihren
Namen!«, brüllte Hart.
»Sie war auch meine Mutter, und es gibt keinen Grund, warum
wir die Erinnerung an sie begraben sollten – sie war eine gute Mutter, verflixt
noch mal!«, erwiderte Bragg mit immer lauter werdender Stimme.
»Ach, lass mich doch in Ruhe mit dem ganzen Mist!« Hart
marschierte auf die Tür zu. Am liebsten hätte er seinen Bruder erwürgt. Er
hasste es, an seine Mutter zu denken. So schön, so erschöpft ... voller Schmerz
... dem Tode nah.
Bragg stürzte hinter ihm her und packte ihn an der Schulter. »Wir
sind noch nicht fertig! Ich bin mir sicher, dass du etwas weißt, was du mir
verschweigst.«
Hart erstarrte, drehte sich aber nicht um. »Nimm deine verdammte
Hand da weg, bevor ich sie dir breche.« Es war ihm bitterernst damit. Er
spürte, wie seine Selbstbeherrschung allmählich zu bröckeln begann.
Bragg ließ ihn los. »Du weißt, wer Randall umgebracht hat, nicht
wahr?«
Er wandte sich langsam um. »Wenn es so wäre, würde ich es dir
bestimmt als Letztem erzählen.«
»Warum? Weil du den Mörder schützt? Oder weil du mich so sehr
hasst?«
»Such es dir aus. Es könnte durchaus beides zutreffen«, zischte
Hart.
»Wenn du weißt, wer Randall getötet hat, verlange ich, dass du es
mir sagst, Calder.«
Hart lächelte verkrampft. »Ich weiß gar nichts. Und jetzt noch
viel Spaß bei der Arbeit. Sie passt zu dir –
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