Brenda Joyce
Weg.«
»Calder Hart genießt einen gewissen Ruf, und er ist der begehrteste
Junggeselle der Stadt. Macht er Ihnen den Hof? Sind Sie deshalb so eifrig
darauf bedacht, ihn zu verteidigen?«
Francesca spürte, dass sie errötete, und sah das Funkeln in den
Augen des Reporters, der offenbar glaubte, einen Volltreffer gelandet zu haben.
»Ich glaube zwar nicht, dass Sie es etwas angeht, Mr Isaacson, aber ich habe Mr
Hart erst vor wenigen Tagen kennen gelernt. Ich bin eine gute Menschenkennerin
und davon überzeugt, dass er unschuldig ist.«
»Worüber haben Sie sich heute vor der Kirche mit Hart unterhalten?
Hat er Sie zum Gottesdienst begleitet?«
Sie blinzelte den Mann verständnislos an. »Wie
bitte?«
»Ich habe gesehen, dass Sie nebeneinander
gesessen haben. Ganz offenbar kennen Sie ihn länger als nur ein paar Tage. Wo
war er am Mordabend? Er hat sich geweigert, mit der Presse zu reden, und das
war keine besonders gute Idee. Die Stadt will Antworten, Miss Cahill.
Vielleicht können Sie sie liefern?«
Sie blickte den kleinen, drahtigen Mann
verächtlich an. »Ich habe nichts zu sagen. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen
würden? Oder soll ich die Polizei rufen? Dann können Sie den Beamten gern
erklären, warum Sie mich daran hindern, den Aufzug zu benutzen.«
Isaacson trat zur Seite. »Falls ich Ihnen Unannehmlichkeiten
bereitet haben sollte, so entschuldige ich mich dafür, Miss Cahill«, sagte er
und schien es aufrichtig zu meinen. »Ich versuche lediglich die Wahrheit
herauszufinden.«
Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment.
Francesca stellte fest, dass der Mann ungefähr in ihrem Alter war. Er trug
eine große Brille mit Drahtgestell, deren Gläser seine Augen riesig erscheinen
ließen. Offenbar ging es ihm wirklich um die Wahrheit. Die Wahrheit ... Die
wollte Francesca selbst nur allzu gern herausfinden. »Guten Tag.« Sie nickte
und betrat den Aufzug, um dann mit einiger Mühe die Gittertür zu schließen.
Dann betätigte sie den Hebel, und während der Korb langsam in den ersten Stock
hinaufstieg, starrte sie den Reporter durch die Eisenstäbe an, bis er endlich
nicht mehr zu sehen war. Als Francesca im ersten Stock ausstieg, atmete sie
erleichtert auf. Zielstrebig schritt sie auf die Tür zu Braggs Büro zu, wobei
ihr keiner der vorübergehenden Beamten Beachtung schenkte. Die obere Hälfte
der Tür bestand aus dickem Milchglas, durch das man nicht hindurchsehen konnte.
Aber dafür konnte Francesca hören, was hinter der Scheibe vor sich ging.
Die Brüder stritten sich, und wie Francesca bereits befürchtet
hatte, schien der Streit soeben in eine Schlägerei auszuarten.
Ohne anzuklopfen, stürmte sie in das Büro.
Kapitel 17
SONTAG, 3. FEBRUAR 1902 – 14 UHR
Gefolgt von Bragg,
war Hart hoch erhobenen Hauptes in Braggs Büro marschiert. Als Bragg die Tür
hinter sich geschlossen hatte, hatte sich sein Halbbruder in dem spartanisch
eingerichteten Zimmer umgesehen. Er erblickte zwei Schreibtische, auf denen
stapelweise Akten und Mappen sowie Bücher und Zeitschriften lagen. Auf Braggs
Schreibtisch stand ein Telefon, dahinter ein Drehstuhl mit Rattanlehne und
davor zwei abgenutzte, schäbige Stühle, die für Besucher bestimmt waren. Hart
warf Bragg einen Blick zu, verkniff sich aber den wenig schmeichelhaften
Kommentar, der ihm auf der Zunge lag.
Bragg steuerte auf seinen Schreibtisch zu,
setzte sich aber nicht. Die beiden Männer standen schweigend da und sahen sich
an. Aufgrund der eisigen Temperaturen war das einzige Fenster des Zimmers
geschlossen, weshalb – anders als normalerweise – kein Straßenlärm zu hören
war.
»Warum das falsche Alibi?«, fragte Bragg schließlich und
durchschnitt damit die Stille.
»Warum nicht?« Hart lächelte und zuckte mit den Schultern. Er
hatte offenbar nicht vor, seinem Halbbruder auch nur im Mindesten
entgegenzukommen.
»Darf ich annehmen, dass es dein Wunsch war,
die Untersuchung des Mordes an deinem Vater so schwierig wie nur eben möglich zu
gestalten? Oder versuchst du einfach, mir das Leben schwer zu machen –
so wie immer?«, fuhr Bragg gelassen fort.
Hart grinste. »Hättest du mir denn geglaubt, wenn ich dir die
Wahrheit gesagt hätte?«, fragte er herausfordernd.
»Nein.«
»Das dachte ich mir schon.« Hart trat auf das
zerkratzte Holzsims über dem Kamin zu. Es hätte dringend eine gründliche
Politur mit Bienenwachs benötigt. Er nahm eine gerahmte Fotografie herunter,
die Rick mit einer wunderschönen rothaarigen Frau, zwei
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